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Kahle Zelle, schmale Kost

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Ist man in Großbritannien zu nachsichtig gegenüber Kriminellen? Über diese Frage wird in der englischen Öffentlichkeit zur Zeit eine hitzige Debatte geführt. Anlaß dazu war unter anderem ein Zeitungsinterview, in dem hohe Polizeibeamte eine härtere Bestrafung von Gesetzesbrechern forderten.

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Ist man in Großbritannien zu nachsichtig gegenüber Kriminellen? Über diese Frage wird in der englischen Öffentlichkeit zur Zeit eine hitzige Debatte geführt. Anlaß dazu war unter anderem ein Zeitungsinterview, in dem hohe Polizeibeamte eine härtere Bestrafung von Gesetzesbrechern forderten.

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Die britischen Strafanstalten sind nach Ansicht vieler Polizeibeamten kein Aufenthaltsort, der unangenehm genug ist, um potentielle Delinquenten von ihren geplanten Taten abzu schrecken. Schmale Kost, eine kahle Zelle, ein hartes Bett, das sei alles, was man einem Strafgefangenen zunächst zubilligen solle. Extras müsse sich der Häftling erst durch vorbildliches Verhalten verdienen, meint zum Beispiel der Präsident der Pölizeigewerkschaft.

Das Interview, das die Diskussion auslöste, wurde in den Londoner „Times" veröffentlicht. Zwei Beamte von Scotland Yard gingen darin zu einem Frontalangriff auf die liberalen Vorstellungen von Strafrechtsreform und Strafvollzug über.

„Wir — die Gesellschaft — geben uns die größte Mühe, zu reformieren und zu rehabilitieren“, sagte einer der Polizeisprecher, „aber so sehr man diese Bemühungen auch bewundert, es bleibt die Tatsache, daß die Verbrecher keine Angst mehr vor den Strafen haben.“

Die interviewten Beamten sprachen sich in Fällen von Gewaltverbrechen gegen das kürzlich in Großbritannien eingeführte System bedingter Haftentlassungen und Bewährungsfristen aus. Sie forderten statt dessen für diese Täter: „Mehr Disziplin, mehr Arbeit, kein Fernsehen, kein Radio, keine Wahl der Mahlzeiten.“

Es ist in Großbritannien höchst ungewöhnlich, daß Polizeibeamte in der Presse ihre persönlichen Ansichten veröffentlichen. In diesem Falle werteten weite Kreise der Öffentlichkeit den „Times"-Artikel als ein Alarmsignal angesichts der scheinbar überhandnehmenden Verbrechenswelle. Ein .härteres Durchgreifen“ der Polizei würde mit Sicherheit die Billigung eines großen Teiles der Bevölkerung und zahlreicher Abgeordneter finden. Eine Reihe großer Zeitungen rechts der Mitte reagierte befäl- lig auf die Forderung nach einem unnachgiebigeren Kurs.

Weniger überzeugt vom Allheil mittel „Härte“ im Kampf gegen die Kriminalität sind die „Times“ selbst. Das Blatt bezweifelt, daß das Gefängnis der Vergangenheit ein besseres Abschreckungsmittel war als das moderne, und betont den Grundsatz, daß in einer zivilisierten Gesellschaft die Strafe allein im Freiheitsentzug und nicht in zusätzlichen Härten bestehen sollte. Und der „Guardian“ meint, Industriegesellschaften seien besonders anfällig für das Verbrechen, und weder Repression noch Reform hätten an dieser Tatsache bis heute etwas ändern können.

Annahmen und Zahlen

Das Hauptargument aller, die sich dem Ruf nach „mehr Härte“ anschließen, besteht natürlich in. der steigenden Zahl von Verbrechen, besonders von Gewaltverbrechen. Die Behauptung, eine Flut des Verbrechens habe begonnen, mehr oder weniger unaufhaltsam über uns hdn- wegzurollen, wird heute vielfach schon als erwiesenes Faktum hingenommen. Dabei beruft man sich auf die Statistiken.

Sehen wir uns also die Statistiken näher an. Annahme Nr. 1 lautet: „Die Zahl der Gewaltverbrechen nimmt in alarmierender Weise zu.“ In einer Zeitungsschlagzeile hieß es: „30 Gewaltverbrechen pro Tag in London!“ Diese Zahl mag stimmen, und doch ist sie irreführend. Denn bei weitem nicht in allen diesen Fällen handelt es sich um Angriffe und Überfälle auf unschuldige Opfer, wie man aus der Schlagzeile zunächst schließen würde. Von den 30 Fällen bleiben vier übrig, wenn man Familienstreitigkeiten, Auseinandersetzungen in Kneipen und andere Raufhändel ausscheidet.

Annahme Nr. 2 lautet: „Mord und Totschlag nehmen überhand!“ Hier die statistischen Zahlen: seit 1960 ist ein jährlicher Anstieg solcher Fälle um 3,6 Prozent zu verzeichnen. Setzt man diese Zahl in Relation zum Bevölkerungszuwachs, so ergeben sich 2,8 Prozent. Von einer alarmie renden Zunahme zu sprechen, wäre also übertrieben.

Annahme Nr. 3 lautet: ,Die Strafen sind milder geworden!“ Hier die Fakten: die Zahl der Verurteilungen wegen Gewaltverbrechen zu fünf Jahren Haft und mehr ist entgegen der allgemeinen Annahme gestiegen, nämlich von 2 auf 3,2 Prozent innerhalb der letzten zehn Jahre.

Annahme Nr. 4. lautet: „Wer früher einmal zu Gefängnis verurteilt wurde, kam selten wieder. Damals war das Gefängnis noch ein wirksames Abschreckungsmittel!“ Auch dazu wieder die Zahlen und als Beispiel diesmal die Kategorie „Raub“: zwischen 1921 und 1948 lag die Rück- fälliigkeitsquote bei rund 67 Prozent. Die einzige neuer Vergleichszahl stammt aus dem Jahre 1965: von den wegen Raubes zu drei und mehr Jahren Verurteilten wurden nicht mehr als 41 Prozent rückfällig. Zahlen, die beweisen, wie unberechtigt es ist, den alten Zeiten nachzutrauern.

Wer prügelt gerne?

Wer ‘es dennoch tut, erinnert sich in diesem Zusammenhang auch meist gern der Tage, als (in England, nicht am Kontinent!) Haftstrafen noch mit Prügelstrafen kombiniert wurden. Letzere galten und gelten als besonders wirksame Abschreckung und werden zur Wiedereinführung empfohlen.

Interessant ist in diesem Zusammenhang, was ein anonymer Gefängnisdirektor in einem Leserbrief an die Zeitung „Guardian“ schrieb: „Woher wollen die Befürworter solcher Strafen diejenigen nehmen, die — ‘als tägliche Beitragsleistung zu einer .gesunden Gesellschaft“ — andere bestrafen? Natürlich gibt es in jeder Gesellschaft krankhaft veranlagte Menschen, die gern als professionelle Prügler und Folterer arbeiten würden. Wenn jedoch eine Gesellschaft diese Perversionen legitimiert und in ihren Dienst stellt, so ist diese Gesellschaft selbst auf den Tod krank. Ich fürchte mich mehr vor der Gewalttätigkeit jener respektablen Bürger, die nach dem Tod, dem Blut, dem Schmerz und der Erniedrigung von Kriminellen rufen, als vor den Kriminellen selbst — und ich habe Tausende gekannt. Gefänig- nisleiter sollen Personen ,in Gewahrsam nehmen“ und nicht .strafen“. Der Verlust der Freiheit ist schrecklich genug — auch ohne zusätzliche Bestrafung.“

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