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Einsperren ist keine Lösung

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Seit Wochen beschäftigt der Fall Ja«k Unterweger vor allem die Boulevard-Presse. Dort wird gekonnt mit der latenten Angst der Leser vor dem Verbrechen gespielt. Es ist ja eine Idealmischung: Mord und Sex. Journalistenherz, was willst du mehr?

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Seit Wochen beschäftigt der Fall Ja«k Unterweger vor allem die Boulevard-Presse. Dort wird gekonnt mit der latenten Angst der Leser vor dem Verbrechen gespielt. Es ist ja eine Idealmischung: Mord und Sex. Journalistenherz, was willst du mehr?

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Und selbstverständlich erklingt auch der Ruf nach besserem Schutz vor Rechtsbrechern: Ein Wahnsinn, einen lebenslänglich Verurteilten vorzeitig - nicht einmal 20 Jahre war er eingesperrt - zu entlassen! Und überhaupt: Schluß mit der Resozialisierung. Den Verbrechern sei nun einmal nicht zu helfen. Man sehe es ja am Fall Unterweger. dem resozialisierten Lieblingskind der intellektuellen Schickeria.

Das Thema Resozialisierung ist zu ernst, um es aufgeschaukelten Emotionen zu opfern. Einige Klarstellungen sind daher angebracht:

□ Morde stellen einen verschwindend geringen Anteil der Delikte dar - weniger als ein Promille. Sie werden allerdings breit in den Medien ausgewalzt. Auch in Krimis geht es meist um Mord und so entsteht im Bewußtsein der Öffentlichkeit ein bestimmtes Bild von Kriminalität: Das des eiskalten, hartgesottenen, mit allen Wassern gewaschenen Verbrechers. Dieses Bild ist falsch: Mehr als 80 Prozent der Delikte sind Vergehen, also keine schweren Gesetzesverletzungen.

Unter den schweren Delikten wiederum überwiegen die Verbrechen gegen fremdes Vermögen, nicht gegen Leib und Leben. Mehr als ein Drittel der Delikte werden von Personen, die jünger als 25 Jahre sind, begangen. Viele von ihnen sind jünger als 18. Was soll da der Ruf nach noch größerer Strenge? Österreich weist in Europa ohnedies eine Spitzenposition bei der Zahl der Gefangenen pro Kopf der Bevölkerung auf.

□ Wer größere Strenge fordert, übersieht eine wichtige Tatsache: Einsperren ist erfahrungsgemäß keine Lösung. Im Gefängnis wird niemand gebessert. Im Gegenteil: Es, ist meist die Startbahn für eine Verbrecherkarriere.

Auch hier sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache: 70 Prozent der Verbrecher, die ohne Betreuung entlassen werden, landen früher oder später wieder im Gefängnis. Ganz anders hingegen die Zahlen bei jenen, denen Bewährungshilfe, also eine gezielte Resoziali-sierungsmaßnahme zuteil wird: Da werden 75 Prozent der Probanden nicht mehr rückfällig.

Zugegeben: Bewährungshilfe wird bei den leichteren Delikten verordnet, Gefängnis bei den schweren. Aber es geht ja gerade darum, durch gezielte, rechtzeitig gesetzte Hilfsmaßnahmen zu verhindern, daß es zu den schweren Delikten kommt. Resozialisierung setzt am wirkungsvollsten in den Anfangsstadien an. Untersuchungen zeigen nämlich eindeutig: Je früher und je härter gestraft wird, umso sicherer kann man mit einem Rückfall rechnen. Milde und gezielte Betreuung für den jugendlichen Delinquenten hingegen erhöhen deutlich die Chancen für eine Wiedereingliederung ins normale Leben.

Besonders bewährt hat sich das Modell der Konfliktregelung bei jugendlichen Gesetzesbrechern. Anstelle einer Verhandlung und Verurteilung tritt der Versuch, zwischen Täter und Opfer zu vermitteln und eine Wiedergutmachung des Schadens durch den Täter zu erwirken. Auch hier zeigt sich eine äußerst hohe Erfolgsquote.

Sicher, die Vorstellung von der gefängnislosen Gesellschaft ist eine realitätsferne Utopie. Aber eines muß auch klar sein: Hinter Gittern wachsen Haß und Verbitterung, dort verliert der Häftling jeden Realitätsbezug. Er verlernt, mit Menschen umzugehen. Während der Haftzeit gehen rund 80 Prozent der Ehen in Brüche. Die Verbindung zur Außenwelt reißt ab (jeder dritte Häftling bekommt keine Post). Kein Wunder, daß im Gefängnis die Selbstmordrate doppelt so hoch ist wie im österreichischen Durchschnitt. Im „Häfen" wird der Mensch meist nicht gebessert. □ Und noch etwas: Fraglos trägt jeder Delinquent eine gute Portion Schuld an seinem Handeln. Wer mit Strafentlassenen zu tun gehabt hat, weiß, daß sie zwar zunächst gerne von ihrer Tat als „Blödsinn" reden, daß sie aber, sobald sie Vertrauen gefaßt haben, sehr wohl auch von ihrer Schuld - und zwar oft in einer erschütternden Art - sprechen wollen.

Kaum hat man aber die Lebensgeschichte eines dieser Delinquenten kennengelernt, so vergißt man wirklich darauf, den berühmten „ersten Stein" zu werfen. Wieviel Not und wieviel Elend treten da zutage! Rund zwei Drittel der Strafgefangenen haben eine „Heimkarriere" hinter sich: Meist katastrophale Verhältnisse zu Hause. Als Kinder ungewollt, vielfach ohne Vater, von einem Heim zum anderen herumgereicht, in der Schule eine Pleite nach der anderen, Freunde, die verführen: Alkohol, Drogen, Sex, Diebstahl... Wer kann guten Gewissens sagen, er wäre unter ähnlichen Bedingungen nicht unter die Räder gekommen? Eigentlich müßte es selbstverständlich sein, djesen Menschen zu Hilfe zu kommen.

Man muß nämlich genaugenommen ein „Charakterathlet" sein, um von selbst nach einer Entlassung wieder auf die Beine zu kommen. Wie sieht es denn da meist aus? Seit langem aufgestaute Wünsche, große Erwartungen, wenig Geld, oft Schulden und Pfändung auf's Existenzminimum, keinen Familienanschluß, keine Arbeit, keine Wohnung - und das Brandmal, vorbestraft zu sein. Letzteres bedeutet: Kaum eine Chance auf Arbeit. Daher auch keine Wohnung, sondern billige Hotels, dann Parkbänke, Bahnhöfe, Alkohol, um die Misere zu ertragen, kein Geld - und daher wieder Delikte...

Es gibt einfach keine Alternative zur Resozialisierung, zum Versuch, Gestrauchelten wieder auf die Beine zu helfen. Das ist sicher eine sehr schwierige Aufgabe. Sie erfordert Geduld, persönlichen Einsatz und viel Bereitschaft, mit Rückschlägen fertigzuwer-den. Und sie hat auch keine Erfolgsgarantie.

Hilfe für Gestrauchelte ist die angemessene Antwort auf die Würde jedes Menschen, der Kind und Ebenbild Gottes bleibt, auch wenn er das total entstellte, vom Leben gezeichnete Antlitz eines Verbrechers oder Sandlers trägt. Der Ruf nach strengerer Strafe entspringt derselben Inhumanität wie der nach Euthanasie und Abtreibung.

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