"Über Qualität der Strafe nachdenken"

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'Neustart' sagt:'Wir müssen über die Tat reden.' Die Antwort ist oft:'Dafür bin ich gesessen, darüber rede ich nicht mit euch.' Wir Sozialarbeiter sind eine Zumutung. Verdrängen spielt es mit uns nicht.

Der Verein "Neustart" arbeitet seit über 60 Jahren in der Bewährungs-und Haftentlassenenhilfe sowie in Opferhilfe und Prävention -und steht für Strafe mit Sinn: Resozialisierung kann nicht am Tag der Haftentlassung beginnen, sondern muss schon im Gefängnis stattfinden.

Die Furche: Wie bewerten Sie die Situation von Langzeit-Häftlingen in Österreich?

Andreas Zembaty: Ich bin nicht zufrieden mit der Art, wie wir als Justiz oder auch als Gesellschaft mit diesen Menschen umgehen. Da ist noch vieles optimierbar. Die demografische Entwicklung zeigt, dass wir alle zunehmend älter werden. Insofern haben wir bei Neustart nicht mehr nur Langstrafige als 60-plus-Klienten und -Klientinnen, sondern auch immer mehr Menschen, die erstmals im fortgeschrittenen Alter straffällig werden. Deren Situation ist zwar oft nicht so dramatisch wie bei Langzeit-Häftlingen, aber sie ist vergleichbar in Bezug auf Chancen, Hoffnungen, der Sinngebung fürs Leben et cetera.

Die Furche: Von wie vielen Personen reden wir da?

Zembaty: Bezüglich Kriminalität liegt diese Altersgruppe bei ungefähr vier Prozent. Doch die Anzahl der Tatverdächtigen im 60-plus-Segment steigt. Nicht dramatisch, aber sie steigt, es wird auch immer mehr ein Thema für die Exekutive. In den "Neustart"-Kerngebieten Bewährungs- und Haftentlassenenhilfe liegt der Anteil von 60-plus-Klienten zwischen zwei und drei Prozent, derzeit haben wir 480 Klienten in diesem Segment. Die kleinere Zahl heißt aber nicht, dass diese Menschen bei uns weniger Aufmerksamkeit genießen. Im Gegenteil: Aufgrund ihrer psychosozialen Problemlage und den speziellen Betreuungsfragen legen wir ein hohes Augenmerk auf diese Gruppe.

Die Furche: Was macht die Betreuung dieser Gruppe so anspruchsvoll?

Zembaty: Für sie steht vor allem die Sinnfrage im Vordergrund: Was macht in meinem Leben noch Sinn? Die Leute kommen alle mit enormen Schamgefühlen aus der Haft und beginnen mit dem Prinzip "Tarnen und Täuschen". Die Tat ist nicht nur für das Opfer katastrophal und manche leiden ihr Leben daran. Auch der Täter ist bei Gewaltdelikten nicht selten von der Tat traumatisiert. Das wird während der Haftzeit verdrängt. Dann kommt "Neustart" und sagt: "Wir müssen über die Tat reden." Und die Antwort lautet nicht selten: "Dafür bin ich gesessen, darüber rede ich nicht mit euch." Wir Sozialarbeiter sind für unsere Klienten oft eine Zumutung. Verdrängen spielt es mit uns nicht.

Die Furche: Sprich, der Neustart ist bei einem Altstart noch schwieriger?

Zembaty: Eindeutig, es ist ungleich schwieriger, aber es ist nicht hoffnungslos. Die Rückfallquoten sind gerade in diesem Alterssegment sehr gering. Insbesondere bei den kapitalsten Verbrechen liegen sie unter zwei Prozent. Und darum muss es uns ja gehen: Wir erwarten uns vom Strafvollzug nach wie vor nicht Rache und Sühne, so steht es nicht im Gesetz, auch wenn es in den Haltungen mancher mitschwingt, sondern die Sicherung der Person während des Vollzugs und die Resozialisierung. Und Resozialisierung kann nicht am Tag nach der Haftentlassung beginnen. Sie muss in den vielen Jahren drinnen stattfinden.

Die Furche: Passiert das ausreichend?

Zembaty: Nein, diese Grundhaltung: Nutzen wir die Zeit, damit derjenige nicht mehr rückfällig wird, ist im Strafvollzug, oft auch aus Mangel an personellen Ressourcen, nicht wirklich einhaltbar. Die Kollegen in den Anstalten haben genug damit zu tun für Ruhe und Ordnung zu sorgen. Damit ist aber auch oft der Vollzugszweck schon definiert. Dass man nämlich die Insassen an die Anforderungen des Strafvollzugs sozialisiert und nicht an jene von draußen. Das liegt nicht an der mangelnden Qualität der Vollzugsbeamten, sondern an der falschen Erwartungshaltung, dass man in Unfreiheit für die Freiheit erziehen kann.

Die Furche: Was würden Sie sich als Vertreter von "Neustart" für den Umgang mit Langzeit-Häftlingen stattdessen wünschen?

Zembaty: Ich wünsche mir von uns als Gesellschaft, dass wir uns über die Qualität der Strafe Gedanken machen und nicht über die Quantität. Schlimm genug, dass man in einer Gesellschaft aufgrund kapitaler Verbrechen oder Fehlleistungen Freiheitsentzug anwenden muss. Wir sind ja nicht naiv und sagen, es braucht keine Strafe. Aber sie muss einen Zweck und Sinn haben. Und alle Strafmaßnahmen müssen von uns und der Politik bestmöglich so ausgestattet werden, dass wir sagen können: Das ist nicht Kuschelvollzug, das ist Sicherheitsvollzug - das dient uns als Gesellschaft. Jeder Tag, den einer oder eine im Gefängnis sitzt -es ist ja auch teuer genug -, muss im Interesse der Kriminalitätsvorbeugung und nicht nur der bloßen Verwahrung genutzt werden.

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