Millennium hinter Gittern

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Unzählige Uhren schmücken die Wände der Gaststube im Wirtshaus gegenüber der Justizanstalt Stein. Welche Stunde es gerade geschlagen hat, weiß der Gast trotzdem nicht. Keiner der vielen Zeiger bewegt sich. Die Zeit steht anscheinend still - im Wirtshaus in Stein.

Und über der Straße? Seit 150 Jahren gibt es an diesem Platz hier ein Gefängnis. Tausende Jahre Haftstrafen wurden in diesen Mauern schon abgesessen. Hunderte waren in Stein ihr Leben lang eingesperrt. Ein Ort voller chronologischer Superlative, reduziert für den Einzelnen auf seinen "täglichen Kampf", wie sich ein Gefangener später ausdrücken wird. Nein, die Zeit steht im Gefängnis nicht still. Sie wird drinnen nur anders wahrgenommen als draußen. Bedrohlicher beim Warten, befreiender beim Hoffen - intensiver immer.

In den 29 österreichischen Justizanstalten verbüßen 6.806 Männer und 423 Frauen ihre Haftstrafen. Platz wäre für 8.000 Inhaftierte. Eine Seltenheit in Europa, erklärt Karl Drexler vom Justizministerium, da fast alle anderen Staaten mit einer starken Überbelegung kämpfen.

Stein beherbergt 760 Gefangene und nach Abschluß der gerade stattfindenden Generalsanierung, wird die größte Strafvollzugsanstalt Österreichs für fast tausend Gefangene eingerichtet sein. Multikulturell ist die Anstalt schon jetzt: 47 Nationalitäten leben hinter Gittern und Mauern zusammen. Die Größe hat auch ihre Vorteile, zerstreut Major Roland Wanek die Vorbehalte gegenüber einem solchen Massenbetrieb. Ein kleineres Gefängnis kann den Insassen nicht diese Fülle an Beschäftigungs-, Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten bieten. Das Vorurteil, daß es nichts Schlimmeres als eine Überstellung nach Stein gibt, stimme schon lange nicht mehr, betont Wanek. Das haben ihm auch viele Häftlinge bestätigt, die ihre Haft in Stein als hundertmal produktiver und abwechslungsreicher einstuften, als in anderen Gefängnissen mit weit weniger bedrohlichem Nimbus.

Für den Besucher, der zum ersten Mal eine Justizanstalt von innen sieht, ist das Szenario aber immer noch bedrohlich genug. Alle paar Meter muß der Begleiter eine Tür auf- und dann wieder zusperren. Der Hausrundgang führt zuerst zum Westtrakt, dem Hochsicherheitstrakt. Hier ist noch das klassische Gefängnis erhalten geblieben. Und von hier aus machen die meisten ihre Fotos, berät der Wachebeamte den eingeschüchterten Journalisten. Weiter gehts, an Monitoren vorbei, in den sogenannten "Erstvollzug". Um "krimineller Infektion" vorzubeugen, werden hier die weniger schweren Jungs untergebracht.

Die Gänge erinnern jetzt mehr an ein Krankenhaus, und auch die Zellentüren mit "Hotelsperre" lassen das Ganze um einiges freundlicher als noch kurz vorher in der Hochsicherheitszone wirken. Die Gefangenen in diesem Bereich haben einen eigenen Schlüssel, mit dem sie unter Tag ihre Zelle auf- und zusperren können. Das soll Verantwortungsgefühl vermitteln, ein totales Entmündigen verhindern, dem "Hospitalisierungseffekt" vorbeugen. Langjährige Gefangene also davor bewahren, daß sie zu keiner Tür mehr hingehen, da diese ihrer Vorstellung und Erfahrung nach sowieso immer zugesperrt ist.

An diesem Vormittag sind nur wenige Häftlinge in den Gängen anzutreffen. Den Wachebeamten grüßen sie respektvoll, den ungewohnten Gast mustern sie eher skeptisch. Die meisten Insassen sind zu dieser Tageszeit in der Arbeit. Im Gefängnis in Stein gibt es noch Vollbeschäftigung: In 35 Betrieben, von der Schlosserei bis zur Buchbinderei, in der Wäscherei, bei der Müllabfuhr, in der hauseigenen Fleischerei arbeiten die Gefangenen. Mehr als zwanzig Berufsabschlüsse werden pro Jahr abgelegt.

Eine große Bedrohung für diese Vielfalt an Beschäftigungsmöglichkeiten, die ja auch wichtige Maßnahmen zur Resozialisierung darstellen, sind die staatlichen Sparpakete. Wenn der Staat beim Wachepersonal spart, weniger neu einstellt oder nachbesetzt, bedeutet das für die Häftlinge den zwangsweisen Rückzug in ihre Zellen. Der Sicherheitsgedanke ist in jedem Gefängnis vorrangig. Soziales Training wird zwar von allen Beteiligten gewünscht, doch bei Sparauflagen setzt man zuerst in diesem Bereich den Rotstift an.

Justizwachebeamter Wanek ist in Stein zuständig für Freizeit, Sport, Kunst und Kultur: Kirchenchor, Fußballteam, Trompetenensemble - auch im Gefängnis kann somit der eine oder andere in Freizeitstreß kommen. Wichtig ist, so Wanek, den Insassen zu lernen, daß es nicht nur Regeln in der Arbeit, sondern genauso in der Freizeit gibt. Für viele kam es gerade in der Freizeit zu jenem Konflikt, der sie schlußendlich ins Gefängnis brachte. Als größtes Problem der Inhaftierten nennt Wanek "den Tag, an dem das Tor aufgeht, und sie draußen wieder auf sich allein gestellt sind". Auf diesen Tag müssen die Gefangenen vorbereitet werden. So viele Stolpersteine wie möglich sind bis zur Entlassung aus dem Weg zu räumen.

Die Entlassungsvorbereitung, die weit mehr als ein Jahr dauert, ist eines jener Projekte, auf die Anstaltsdirektor Johann Hadrbolec stolz ist. Wenn niemand rückfällig wird, ist das der größte Erfolg. Seit 13 Jahren ist Hadrbolec in Stein. Seither hat sich vieles verändert. Die öffentliche Wahrnehmung sei differenzierter geworden. Das Klischee vom Wächter und Kerkermeister ist nicht mehr so vorherrschend wie früher. Strafvollzug ist für den Gefängnisdirektor Erziehungsarbeit. Und so wie andere Pädagogen, will auch er Vorbild sein.

Zwischen Sichern und Lockern muß Hadrbolec die richtige Balance finden: "Ein schwieriges Metier!" Beim Gespräch mit einigen Häftlingen kommt er ins Philosophieren. Doch die Aussagen des Direktors, so interessant sie auch sein mögen, sind immer noch kommentierend. Jetzt - und das war die Intention dieses Gesprächs - sollen Strafgefangene selber zu Wort kommen.

Mit fünf Häftlingen, alle wegen Morddelikten eingesperrt, sitzt ein Furche-Redakteur nicht jeden Tag zusammen. Die anwesende Psychologin, der Wachebeamte und der schon erwähnte Anstaltsleiter sind zwar der gewohntere Umgang, machen den Einstieg in eine hoffentlich gelungene Konversation aber auch nicht leichter. Womit anfangen? In dieser schicksalsschweren Umgebung ist sowieso jede Frage schnell banal, unwichtig, ja lächerlich. Also: Wie verbringen Sie Weihnachten? Was geht Ihnen zum Jahreswechsel, zu diesem Jahreswechsel durch den Kopf?

Die Reaktion der Gefangenen überrascht. Einer nach dem anderen meldet sich zu Wort. Jeder läßt jeden nachdenken, aussprechen. Gesprächskultur par excellence. Und was sie sagen? Einer vergleicht die jetzige Situation mit den 13 Jahren die er in Einzelhaft gewesen ist. Jetzt kann er mit anderen zusammen feiern. Die stundenlangen Grübeleien fallen weg. Jetzt stehen sie sich gegenseitig bei, und es kommt Geselligkeit auf. "Familienähnlich" mit einem Wort.

Der Mann, der das sagt, hat Narben am Hals und zwei goldene Kreuze um denselbigen gehängt. Seit 17 Jahren ist er im Gefängnis. Wie lange lebenslänglich für ihn heißt, weiß er nicht. Er tut das Möglichste, um seine Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Und die Hoffnung gibt er nicht auf.

Harmlose Gitter "Die Gitter sind das Harmloseste", meint ein anderer. Um vieles schlimmer ist der riesengroße Leidensschweif, den er hinter sich herzieht. In diesen Tagen, bei diesen Feiern wird ihm das noch mehr als sonst bewußt. "Darf ich lustig sein?" hämmert es im Kopf, wenn er einmal vor heller Freude auflacht. "Es gibt jemanden, der kann das wegen mir jetzt nicht mehr."

Ein Dritter ermutigt seinen Kollegen - so die übliche Anrede - sich selbst zu verzeihen. Zu Weihnachten ist doch der Erlöser geboren, der auch ihn von seiner Schuld befreit hat. So schnell läßt sich der Angesprochene aber nicht überzeugen: "Solange mir meine Tat noch weh tut, weiß ich, ich bin noch ein Mensch."

Hier hat man genügend Zeit, um auch den ganz kleinen Dingen Beachtung zu schenken, sind sich alle Insassen einig. Das Gänseblümchen am Mauersims, das langwierige Procedere, wenn eine Spinne ihr Netz baut. "So intensiv kann man sich draußen gar nicht mit solchen Dingen befassen. Das muß ich mir mitnehmen, wenn ich wieder frei komme!"

Die markante Jahreszahl 2000 verleitet zum jahrezählen. Solange bin ich schon eingesperrt; wie lange muß ich es noch bleiben? "Ich rechne nicht jedes Jahr, aber jetzt wird einem das so deutlich hingeknallt." Und schließlich haben diese fünf Gefangenen "berechtigte Hoffnung, im neuen Jahrtausend entlassen zu werden".

Zum Dossier Der Jahreswechsel mit dem markanten Datumssprung war Anlaß für viele Rück- und Ausblicke. Einen anderen Blick, die Perspektive mehr, versucht die Furche mit diesem Dossier über die Situation von Gefängnisinsassen zu bieten. Was bewegt diese Menschen an der Zeitenwende? Was können Psychiater in deren Köpfen bewegen? Was, wenn die einzige Bewegung nur mehr "Abschiebung" heißt? Die Antworten lesen Sie auf den folgenden Seiten.

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