#Jeder kann zum Mörder werden#

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Vor 28 Jahren wechselte Helene Pigl vom Hotel Hilton in den Strafvollzug. Heute leitet sie mit der Justizanstalt Josefstadt das größte Gefängnis Österreichs. Über ein Leben mit Perfektionsanspruch und den (Un)Sinn, Menschen einzusperren.

Die Welt hinter dem massiven, grünen Tor folgt ihren eigenen Regeln. Ausweis abgeben, Handy abgeben, Besuchernummer #B6# gut sichtbar tragen. #Haben Sie Stich- oder Schusswaffen dabei?#, fragt der Wachebeamte # und lotst den Besuch zum Lift. Oben, im zweiten Stock des großen #Grauen Hauses#, ist die Chefin daheim: Helene Pigl, 53 Jahre alt, ein tougher Wirbelwind: #Nirgendwo ist Ihre Geldtasche so sicher wie hier#, sagt sie lächelnd und kredenzt auf ihrem meterlangen Konferenztisch erst einmal Kaffee.

Seit 1. Oktober 2007 leitet die Hofrätin die Justizanstalt Wien-Josefstadt, Österreichs größtes Gefängnis. Eigentlich ist das gerichtliche Gefangenenhaus für 921 Insassen konzipiert. Tatsächlich sind derzeit knapp 1200 Männer, Frauen und Jugendliche an der Adresse Wickenburggasse 18-20 untergebracht: Zwei Drittel, darunter ein gewisser Helmut Elsner, warten als Untersuchungshäftlinge auf ihren rechtskräftigen Urteilsspruch; ein Drittel sitzt seine Strafe ab.

Es ist vor allem dieser chronische Überbelag, der Helene Pigls Alltag prägt. Bis zu acht Personen teilen sich eine Zelle. Die Entscheidung, wer mit wem in einen Haftraum soll, erfordert größtes Fingerspitzengefühl. #Wir sind ja nicht dazu da, den Leuten die Haft noch zu erschweren, indem man ihnen Leute dazulegt, mit denen sie nicht reden können#, stellt Pigl klar. Aber auch die über 400 Justizwachebeamten stehen angesichts der Masse an Häftlingen unter Druck. Soll sie, wie vielfach gefordert, die Freizeitmöglichkeiten der Insassen beschneiden, um die Belastung der Exekutivbeamten zu reduzieren? Oder soll sie davon absehen, weil ansonsten die Aggressionen steigen und die Einsatzgruppe als Krisenfeuerwehr noch öfter ausrücken muss?

Wie immer sich Pigl entscheidet # es wird wohl überlegt und vorbereitet sein. Seit ihrem Dienstantritt protokolliert sie alle Entwicklungen und Entscheidungen mit. Zwölf Schulhefte hat sie bereits mit Stichworten gefüllt. #Mein Ziel ist es, zu 95 Prozent perfekt organisiert zu sein#, sagt sie in ihrem Büro mit Blick auf das grüne Tor darunter.

Die Tendenz zur Zielstrebigkeit hat sie von ihrer Mutter, die in der Sommersaison eine Pension samt Restaurant am Wörthersee betrieben hat. 1957 in Wien geboren, soll Tochter Helene den Betrieb übernehmen. Sie besucht nach der Matura die Hotelfachschule im Wiener #Modul#, geht ins Hilton im Stadtpark, muss dort Schichtdienst leisten und stets freundlich sein # und fühlt sich als junge, hübsche Frau #mitvermarktet#. Als ihr eine Bekannte von der Justizwache erzählt, beginnt sich die mittlerweile verheiratete Frau für dieses fremde Milieu zu interessieren. 1982 beginnt sie ihre Grundausbildung als Justizwachebeamtin im damaligen Gefangenenhaus II Wien. #Im ersten Jahr habe ich mich schon sehr emotional involviert in die Geschichten#, erzählt Pigl und erinnert sich an eine Insassin, die eine andere, gebrechliche Frau, von der sie psychisch gequält worden war, in einer Situation der Überlastung getötet hat. #Jeder Mensch kann zum Mörder werden, wenn nur die Voraussetzungen dafür gegeben sind#, ist sie seitdem überzeugt.

Prägender als die Insassinnen sind für die junge Beamtin freilich die Kollegen. Es herrscht ein rauer Umgangston # und viele sind noch von der Zeit vor 1975 geprägt, als es verboten war, mit den Häftlingen zu sprechen. Helene Pigl aber spricht mit ihnen Hochdeutsch # und zeigt Ambition: Nach viereinhalb Jahren Dienst und der Geburt ihres Sohnes macht sie eine Offiziersausbildung und wird 1989 Leiterin der Wirtschaftsverwaltung in der Justizanstalt Simmering. Es folgt eine der schwersten Phasen ihres Leben # die Scheidung von ihrem Mann und der Obsorgestreit um das gemeinsame Kind. Neben ihrer Arbeit im zentralen Wirtschaftsamt des Justizministeriums beginnt sie schließlich ein Soziologiestudium. 2002, kurz vor ihrer Sponsion, wird sie Leiterin der Justizanstalt Wiener Neustadt und fünf Jahre später als erste Frau Chefin des #Grauen Hauses# in der Josefstadt.

Vision von #humanerem Strafvollzug#

Eine große Aufgabe # vor allem angesichts des enormen Überbelags. Für ihr Ziel, einen #humaneren Strafvollzug#, bräuchte es Entlastung # etwa durch den Bau einer Jugendstrafanstalt. #Aber da müssen andere auch mitspielen#, weiß die Gefängnisleiterin, die erst heuer wieder geheiratet hat. Sie könne nur versuchen, ihre Arbeit Tag für Tag gut zu tun # und im Kopf umzuschalten, wenn sie durch das große, grüne Tor ins Freie tritt.

Stellt sie sich eigentlich selbst die Frage, welchen Sinn es hat, Menschen einzusperren? #In Wahrheit hat es nicht viel Sinn, außer den, dass andere Menschen vor den Taten dieser Leute eine Zeit lang geschützt werden#, ist sich Helene Pigl bewusst. Als bessere Menschen würden die Insassen das Gefängnis wohl kaum verlassen: Warum soll ausgerechnet einer Haftanstalt gelingen, woran alle anderen Institutionen zuvor gescheitert sind? #Ich halte es da wie Karl Schreiner, der legendäre Leiter der Strafanstalt Stein: Ich bin schon glücklich, wenn ein Mörder später nur mehr ein Dieb ist#, sagt die toughe Frau auf ihrem meterlangen Besprechungstisch. #Das ist zwar plakativ, aber als Antwort nicht einmal so schlecht.#

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