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Der Massenmord an den „Politischen” von Stein

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Einer konnte sich retten, indem er sich für einen „Kriminellen” ausgab. Er habe eine Reichskleiderkarte gefälscht und solle bald entlassen werden, flunkerte er einem SS-Offizier vor. Er durfte sich auf die Seite stellen und mußte zusehen, wie man seine Kameraden, politische Gefangener des „Zuchthauses Stein”, ermordete.

„Herschauen, schön herschauen” rief ein SS-Mann einem Schwerverletzten zu, ehe er ihn erschoß. Mit den Worten „Wir werden dir gleich die Mutter geben!” schoß ein großer SA-Mann einen schwerverletzten jungen Burschen, der nach seiner Mutter rief, ins Genick. Man schrieb den 6. April 1945. Die Russen standen vor Wien. In Stein vollzog SA-Standartenführer Leo Pilz den „Räumungsbefehl” des Reichsministers der Justiz auf seine Weise.

50 Jahre später: Kreuze am Straßenrand. Kreuze auf einer kleinen Wiese. Überall in diesen Tagen in der Umgebung der Strafanstalt Stein Kreuze, insgesamt 386. Sie erinnern an die Opfer des Massenmordes. Auf vielen ist ein Zettelchen mit dem Namen des Opfers befestigt. Auf vielen anderen nur ein Fragezeichen. Es gibt keine vollständige Liste der Toten. Auch deren genaue Zahl konnte nie festgestellt werden.

Anläßlich der exemplarischen Gedenkaktion in Stein wurde auch ein Buch der Öffentlichkeit übergeben: „Stein 6. April 1945 - Das Urteil des Volksgerichts Wien (August 1946) gegen die Verantwortlichen des Massakers im Zuchthaus Stein”. Ein schwarzes Büchlein mit silberner Schrift, optisch angelehnt an eine Kranzschleife. Es ist eine würdige Kranzschleife für 386 Tote.

Mit dieser von Gerhard Jagschitz und Wolfgang Neugebauer herausgegebenen Publikation startet das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes gemeinsam mit dem Justizministerium ein Projekt von höchster Wichtigkeit, das viele Jahre Arbeit erfordern wird: Die Aufarbeitung der Akten der österrreichischen Prozesse gegen NS-Straftäter.

Der Autor dieser Rezension arbeitet an einer Dokumentation der zeit-

genössischen Zeitungsberichte über diese Prozesse. Unsere Darstellung des Verbrechens von Stein greift auf beide Quellen, die Publikation des Urteils sowie die Zeitungsberichte über den Prozeß aus dem Jahr 1946, zurück.

Das Massaker gehörte zu den ersten unmittelbar nach Kriegsende in Wien bekannt gewordenen typischen Endphasenverbrechen der Nazis, die den Untergang des Hitlerstaates kennzeichnen. Der Prozeß gegen die Täter begann am 5. August 1946. Untersuchungsrichter Klemens Pausinger, der ihn in fünf Wochen vorbereitet hatte, war selbst von einem Nazi-Volksgerichtshof zum Tod verurteilt worden und hatte nur durch das nahe Kriegsende überlebt.

Heute werden mitunter falsche Schlüsse aus der Tatsache gezogen, daß die Gerichte, welche nach dem Krieg die NS-Verbrechen abhandelten, ebenfalls Volksgerichte hießen. Die sogenannten ordentlichen Gerichte wären aber niemals in der Lage gewesen, diese gewaltige Aufgabe in vertretbarer Zeit (etwa 23.000 Hauptverhandlungen, von denen der Großteil innerhalb von vier Jahren abgeschlossen werden konnte) zu bewältigen.

Volksgerichte - anders

Österreichs Volksgerichte hatten mit den Nazi-Volksgerichten nichts gemein. Sie bestanden aus zwei Rerufs-richtern und drei Schöffen und waren insofern Sondergerichte, als es keinen Einspruch gegen die Anklageschrift und keine Nichtigkeitsbeschwerde und Rerufung gegen das Urteil gab. Die Verurteilten konnten aber den Obersten Gerichtshof um Überprüfung des Urteils ersuchen, und dieser konnte von sich aus Urteile aufheben. Von beiden Möglichkeiten wurde des öfteren Gebrauch gemacht.

Der Stein-Prozeß endete am 30. August 1946 mit fünf Todesurteilen, die im Februar und März 1947 vollstreckt wurden, fünf Verurteilungen zu lebenslang (die bedingten Begnadigungen erfolgten 1953 und 1954), einer zu drei Jahren und vier Freisprüchen.

Es handelt sich hier um einen jener Prozesse, in denen das Gericht durch die Zeitnähe zur Tat über

zahlreiche Zeugen mit frischer, verläßlicher Erinnerung verfügte. Dies zeichnet übrigens tausende österreichische NS-Prozesse gegenüber den deutschen Verfahren aus. Im Stein-Prozeß brachten die Zeugenaussagen eine Fülle neuen Materials bei, das bei der Vorbereitung der Anklageschrift noch nicht zur Verfügung gestanden hatte, und führten zu zahlreichen Ergänzungen und Korrekturen.

Kurz das Geschehen: Anstaltsleiter Franz Kodre verfügte angesichts des Lebensmittelmangels und der Kriegslage am 5. April 1945 die Freilassung der Häftlinge für den nächsten Tag. Während die Kleider ausgegeben und Wegzehrung bereitgestellt wurde und ein Teil der Häftlinge sich bereits im Hof versammelt hatte, flog das Tor auf, SS und SA stürmten den Gefängnishof und veranstalteten mit Maschinenpistolen, Maschinengewehren, Pistolen und Handgranaten ein beispielloses Massaker vor allem unter den „Politischen”. Noch in den Zellen verbliebene Gefangene wurden herausgeholt und ebenfalls ermordet.

836 Gefangene wurden unter menschenunwürdigen Bedingungen per Schiff abtransportiert, Entflone-ne in einem grausigen Gegenstück zur „Mühlviertier Hasenjagd” eingefangen und ermordet - eine größere Zahl fand auf dem Friedhof von Hadersdorf am Kamp den Tod. Die Gedenktafel existiert nicht mehr.

Verniedlichungen • heute

Nach dem Gemetzel im Anstaltshof wurden Anstaltsleiter Kodre und zwei seiner Beamten „standrechtlich” erschossen. Sein Stellvertreter und ehemaliger Freund - einer der am 30. August 1946 zum Tod Verurteilten - stand daneben. Das Papier, das Kodre entlasten könnte, hatte er in der Tasche.

Man kann in Krems und Stein selbst heute noch hören, keineswegs nur in Wirtshäusern, sondern von Honoratioren, eigentlich sei das Einschreiten der SA und SS ja begreiflich, da es während der Entlassung nicht nur zu einem Chaos gekommen sei, sondern auch mehrere Schüsse gefallen seien. Außerhalb der Anstalt habe man ja nicht wissen können, daß bloß in die Luft geschossen worden sei, um Ruhe herzustellen. Das Einschreiten gegen die vermeintliche Revolte sei also begreiflich.

Die Zeugenaussagen ergaben ein völlig anderes Bild, nämlich das einer geplanten Liquidierungsaktion. Kodres Stellvertreter hatte die geeichten Nazis unter den Beamten be-

reite 24 Stunden vor dem Massenmord zu einer Besprechung zusammengerufen, in der er die Parole ausgab: „Evakuieren oder umlegen! Freilassen kommt nicht in Frage!”

Die Gefangenen hatten, sagt ein ehemaliger politischer Häftling, der Klavierfabrikant Rudolf Stelzhammer, aus, etwas derartiges längst befürchtet. Von einigen Angeklagten werden auch Drohungen, wie, die Politischen würden sowieso vernichtet, sie würden mit dem ganzen Haus in die Luft gesprengt oder „die Hacke sei schon im Anrollen”, lang vor dem 6. August, berichtet.

Als ein Hilfsaufseher nach der erwähnten Besprechung einen Streit mit einigen Häftlingen hatte und ihnen zurief: „Ich schwöre euch, heute seid ihr alle noch hin!” ahnten sie nicht, daß er in seiner Unbeherrschtheit ein Geheimnis ausgeplaudert hatte. Er blieb in der Anstalt, obwohl sein Dienst zu Ende war, und ging mit seinem Schlüsselbund dem Mordkommando voran, um die Zellen aufzuschließen. „Schießt die Banditen nur nieder!” rief er der Eskorte nach, als die Gefangenen zur Hinrichtung in den Hof getrieben wurden. Vor dem Volksgericht beteuerte er: „Ich konnte mich doch nicht widersetzen, ich stand ja unter Druck.”

Ein anderer Hilfsaufseher kam so-

far zu einem Überlebenden und .eugen in die Zelle und sagte zu ihm: „Du Gauner, heute kommst du mir nicht mehr aus!”

Das Persönlichkeitebild des Hauptangeklagten wird zum Sittenbild des Naziregimes. Es wird den österreichischen Volksgerichten in

den folgenden Jahren mit erschütternder Monotonie immer wieder begegnen. Im Frühjahr 1938 zog er einen Haufen Ringe, Armbänder und Uhren aus der Hosentasche und sagte zu einem Zeugen: „Heute habe ich wieder Juden gekitzelt.” Später zwang er die von ihm Verhörten zum Trinken von Rizinusöl. Einem amerikanischen Flieger zertrümmerte er mit einem Faustechlag das Nasenbein. Nachdem er einen ausländischen Arbeiter wegen Diebstahls einer Decke erschossen hatte, sagte er zu einem entsetzten Zuschauer: „Gelt, da schaust Bauer, wie wir das machen.”

Gedenkaktion - mustergültig

Die Witwe des Anstaltsleiters mußte ihren Mann eigenhändig begraben. Kreisleiter F. ließ es sich nicht nehmen, den Kremser Tischlern mitzuteilen,' sie dürften ihr keinen Sarg verkaufen.

Die vom Historiker Bobert Strei-bel für „B-project” konzipierte Erinnerungsaktion wird dem Geschehen voll gerecht. Nach der Gedenkveranstaltung, die vorige Woche stattfand, werden Plakate mit der österreichischen Fahne verkünden: „Befreit!” Dann werden die Kreuze im Lauf von Wochen langsam wieder verschwinden. Symbol des Vergessens -und des V erdrängens, nicht nur in Krems und Stein

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