Nürnberger Prozesse - © Foto: ullstein bild / Ullstein Bild / picturedesk.com

75 Jahre Nürnberger Prozesse, Teil II: Das unverbrauchte Entsetzen

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Die Ankläger hatten ihr Beweisverfahren auf Akten aufgebaut, doch erst durch die Aussagen von Zeugen brannten sich die Verbrechen des NS-Regimes in das kollektive Gedächtnis ein.

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Die Ankläger hatten ihr Beweisverfahren auf Akten aufgebaut, doch erst durch die Aussagen von Zeugen brannten sich die Verbrechen des NS-Regimes in das kollektive Gedächtnis ein.

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Stunde um Stunde, Tag für Tag verlesene Akten, erwähnte Akten, aufgezählte Akten, zitierte oder nur unter ihrer Nummer in Erinnerung gebrachte Akten dokumentierten die nackte, aus den Akten des Nazi-Staates aufsteigende Unmenschlichkeit. Die Amerikaner hatten ihr Beweisverfahren auf Akten aufgebaut, und der Nürnberger Prozess wurde zu einem großen Teil ein Aktenprozess.

Gewiss, ohne das Hoßbach-Protokoll hätten die hohen deutschen Militärs abstreiten können, jemals von Hitler über seine Angriffspläne informiert worden zu sein, und ohne die Mitschrift der Wannsee-Konferenz wüssten wir nicht, dass keiner der anwesenden hohen Beamten auch nur ein kritisches Wort von sich gab, als sie in den „Endlösung“ genannten Mordplan eingeweiht wurden.

Die Zeugen sollten ursprünglich eher eine Nebenrolle spielen, und doch waren es die Zeugenaussagen, die schockierten und in Erinnerung blieben – auch in der Erinnerung der Vielen, die sie nicht im Saal miterlebt, sondern in der Zeitung gelesen hatten.

Am neunten Verhandlungstag, dem 30. November 1945, betrat Generalmajor Erwin von Lahousen als erster Zeuge den Saal. Der österreichische Nachrichtenoffizier wurde nach dem „Anschluss“ als unmittelbarer Untergebener des vor Kriegsende von den Nazis ermordeten Abwehrchefs und NS-Gegners Admiral Wilhelm Canaris in die deutsche Abwehr übernommen. Er war am 12. September 1939, kurz nach Hitlers Überfall auf Polen, im Waggon Wilhelm Keitels im „Führerzug“ dabei, als der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht erklärte, die polnische Intelligenz, der Adel, die Geistlichkeit und selbstverständlich die Juden würden ausgerottet.

Anschließend stand er daneben, als Außenminister Ribbentrop darlegte, in der galizischen Ukraine müsse „der Aufstand oder die Aufstandsbewegung derart inszeniert werden, dass alle Gehöfte der Polen in Flammen aufgingen und alle Juden totgeschlagen würden“.

Otto Ohlendorf

Die Zeugenaussagen, die sich in das Gedächtnis der Menschheit einbrannten, waren freilich von anderer Art. Der hochintelligente Jurist und Ökonom Otto Ohlendorf, der am 3. Jänner 1946 aus der Haft vorgeführt wurde, war eigentlich dafür zuständig, mit einer Armee von Mitarbeitern, die sich überall umhörten, die Führungsschicht am Laufenden darüber zu halten, wie die „Volksgenossen“ wirklich dachten.

Doch als Reinhard Heydrich beschloss, den Abteilungsleitern des Reichssicherheitshauptamtes „Stahl in die Adern zu gießen“, musste auch des Teufels Meinungsforscher das Kommando einer Einsatzgruppe übernehmen. Sachlich, emotionslos, um Genauigkeit bemüht, beschrieb er, wie die Einsatzgruppe D unter seinem Kommando binnen eines Jahres 90.000 Menschen erschossen hatte. Jeder Frage des Anklägers Oberst Amen folgte eine kurze, präzise Antwort. Den Zuhörern gefror das Blut.

In welcher Stellung die Opfer erschossen worden seien?
Stehend oder kniend.

Was mit den Kleidern geschehen sei, die die Opfer anhatten, als sie zum Hinrichtungsort kamen?
Sie hatten lediglich die Oberkleidung abzulegen, unmittelbar vor der Hinrichtung.

Was mit dem Rest der Kleidungsstücke geschehen sei, die sie anhatten?
Die behielten die Leute an.

Was mit dem Eigentum der Erschossenen geschehen sei?
Wertgegenstände wurden über das Reichssicherheitshauptamt oder direkt dem Finanzministerium übergeben. Die Uhren bekam auf Anforderung der Wehrmacht die Front. Die Kleider wurden an die Bevölkerung verteilt, später von der Volkswohlfahrt erfasst.

Ob er persönlich Massenhinrichtungen überwacht habe?
Ich bin bei zwei Massenhinrichtungen inspektionsweise dabei gewesen.

Wie andere Einsatzgruppen die Sache gehandhabt hätten?
Einige führten die Tötung einzeln durch Genickschuss durch.

Er sei gegen ein derartiges Vorgehen gewesen?
Ich war gegen dieses Vorgehen, jawohl.

Warum?
Weil es sowohl die Opfer als auch die, die zur Tötung befohlen waren, unendlich seelisch belastete.

Als in Simferopol Hungersnot drohte und Wohnungsnot herrschte, ersuchte das Oberkommando der 11. Armee, die Hinrichtungen zu beschleunigen. Dies nur zur oft behaupteten Unwissenheit und Unschuld der deutschen Wehrmacht. Heute sind die Schandtaten der Nazis Schrecken von gestern, doch als Ohlendorf seine Aussage machte, lag der Krieg kein Jahr zurück. Die Ankläger wussten seit zwei Monaten von der Tätigkeit der Einsatzgruppen, auch die meisten Nazigegner hatten keine Ahnung vom ganzen Ausmaß der NS-Verbrechen.

Während Ohlendorf sprach, sank ein Eishauch über Gericht und Zuhörer. Das Entsetzen war frisch und unverbraucht. Zwei Jahre später, am 10. April 1948, als er sein Todesurteil hörte, war der Gegensatz zwischen dem sachlichen Ton, in dem, und der Grauenhaftigkeit dessen, worüber er gesprochen hatte, bereits ein vielfach kommentiertes Phänomen.

Rudolf Höß

Auch der Auftritt von Rudolf Höß am 15. April 1946 wurde zur schwarzen Sternstunde. Inzwischen hatten das Gericht, die Zuschauer und die Welt die Zeugen gehört, welche die Hölle von Auschwitz überlebt hatten. Nun bestätigte ein hochrangiger Täter ihre Berichte. Doch als sich herausstellte, dass der angebliche Bootsmannsmaat Franz Lang tatsächlich der Lagerkommandant von Auschwitz Rudolf Höß war, konnten nur noch die Verteidiger weitere Zeugen namhaft machen. Die Verfahrensregeln kannten keine Ausnahme.

Kurt Kauffmann, der Verteidiger von Ernst Kaltenbrunner, diente der Wahrheitsfindung, indem er Höß als Zeugen dafür beantragte, dass der Chef des Reichssicherheitshauptamtes Auschwitz nicht besucht habe. Damit gab er den Anklägern Gelegenheit, den Zeugen im Kreuzverhör zu befragen, nachdem er Höß hatte schildern lassen, wie er im Sommer 1941 zu Himmler befohlen worden war: „Dieser sagte mir dem Sinne nach, der Führer hat die Endlösung der Judenfrage befohlen. Wir, die SS, haben diesen Befehl durchzuführen. Wenn jetzt zu diesem Zeitpunkt dies nicht durchgeführt wird, so wird später das jüdische Volk das deutsche vernichten.“

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