Stachel im Fleisch der Welt

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Wie der Nürnberger Prozess nach 55 Jahren plötzlich wieder aktuell wurde.

Das Bild, das die Angeklagten bieten, ist äußerst widersprüchig. Ist die Reue, die ein Teil zeigt, echt? Verbergen die Trotzigen ihr Schuldbewusstsein oder begreifen sie noch immer nichts von der Schuld, die sie auf sich geladen haben? Sie haben keine Chance, die von den Nazis begangenen Verbrechen abzuleugnen oder zu beschönigen. Und dies begreifen sie schnell. Ziemlich am Anfang des Prozesses wird im Gerichtssaal ein Film gezeigt: nach Kriegsende entstandene Dokumentarfilme alliierter Kameramänner und Filmaufnahmen der ss.

Der Film beginnt mit der Verbrennung lebender Menschen in einer Scheune. Nur die kleinen Notlampen in der Anklagebank beleuchten die Gesichter. Schacht, der nach einem Zwist mit Hitler selbst im kz war, kreuzt die Arme und blickt zur Galerie hinauf. Keitel setzt sich die Kopfhörer auf und blickt nur aus den Augenwinkeln hin. Neurath senkt den Kopf, um nichts zu sehen. Ribbentrop schließt die Augen und wendet sich ab. Göring gibt sich gelassen und blickt nur gelegentlich zur Leinwand. Heß starrt geradeaus. Funk bedeckt die Augen mit den Händen und leidet offensichtlich Qualen. Frank schluckt krampfhaft und kämpft offenbar mit den Tränen. Streicher verharrt regungslos und blinzelt nur manchmal. Rosenberg ist unruhig, senkt den Kopf, starrt hin und wieder auf die Leinwand und riskiert den einen oder anderen Seitenblick auf die Reaktionen der anderen.

Nun werden Berge von Toten in den Lagern gezeigt. Papen starrt auf den Boden, hält den Kopf in den Händen und hat noch kein einziges Mal hingeschaut. Raeder und Seyß-Inquart folgen bewegungslos. Schirach atmet schwer und flüstert mit Sauckel. Funk weint nun. Speer schluckt. Göring starrt trübsinnig vor sich hin. Frank kaut an seinen Nägeln. Von den Tischen der Verteidiger sind gedämpfte Bemerkungen zu hören: "Schrecklich!" und "Um Gottes Willen!"

Der Film zeigt nun die Krematoriumsöfen von Buchenwald. Streicher erklärt: "Ich glaube das nicht." Schacht schaut weiterhin zur Galerie hinauf. Frank nickt und murmelt: "Schrecklich!" Experimente mit lebenden Menschen werden beschrieben, Berge von Leichen in Gruben geschoben. Streicher zeigt zum ersten Mal Unruhe. Dönitz wirft keinen Blick mehr auf die Leinwand. Sauckel zuckt zusammen. Der Lagerkommandant Kramer von Bergen-Belsen wird gezeigt. Funk, mit erstickter Stimme: "Das dreckige Schwein!" An einer besonders krassen Stelle schlägt er sich mit der Hand auf den Mund. Keitel lässt den Kopf hängen. Frick schüttelt ungläubig den Kopf.

Massenmörder weint

Es ist wieder hell im Saal. Noch ist das Entsetzen angesichts dieser Filme frisch und unverbraucht, noch hat niemand wohlfeile Ausflüchte zur Hand. Das gesamte Auditorium wirkt erschüttert. Heß meint: "Ich glaube es nicht!" Göring flüstert ihm zu, zu schweigen. All seine Lässigkeit ist plötzlich verschwunden. Streicher äußert die Vermutung, all dies könne vielleicht in den letzten Tagen des Zusammenbruches geschehen sein. Fritzsche antwortet ihm zornig: "Millionen? In den letzten Tagen? Nein!" Niemand sonst spricht, während die Angeklagten den Saal verlassen.

Der Psychiater Kelley und der Psychologe Gilbert haben während der Vorführung die Reaktionen der Angeklagten notiert. Anschließend gehen sie von Zelle zu Zelle. Ein Teil der Angeklagten steht noch im Bann dessen, was sie gesehen haben. Funk bricht in Tränen aus und sagt mit erstickter Stimme: "Grauenvoll!" Die angebotene Schlaftablette lehnt er ab: "Was nützt es?" Sauckel ruft zitternd aus: "Erwürgen würde ich mich mit diesen Händen, wenn ich dächte, ich hätte das geringste mit jenen Morden zu tun gehabt! Es ist eine Schande! Es ist ein Schandfleck für uns und unsere Kinder und unsere Kindeskinder." Ribbentrop: "Hitler hätte sich nicht einmal einen solchen Film ansehen können! Ich verstehe es nicht. Ich glaube nicht einmal, dass Himmler derartige Dinge hat befehlen können. Ich verstehe es nicht." Frank, der einst in seinen Tagebüchern völlig offen und zynisch über die Ausrottung der Juden berichtet und sich seiner führenden Rolle dabei gebrüstet hat, beginnt sofort zu weinen: "Wenn man bedenkt, dass wir wie Könige lebten und an diese Bestien glaubten! Lassen Sie sich von niemandem erzählen, dass sie nichts gewusst hätten! Jeder ahnte, dass etwas ganz und gar nicht in Ordnung war mit diesem System, auch wenn wir nicht alle Einzelheiten wussten." Ganz so, als wäre er nicht selbst einer von denen gewesen, an welche die Menschen glaubten, ein führender Mann des Systems.

Die Reaktionen der Angeklagten lassen etwas von der Gruppendynamik des Unmenschen erahnen. Von der Bestätigungsmacht eines Systems, in dem sich auf allen Ebenen jeder vom Einverständnis seiner Mittäter getragen fühlte. Vom zutiefst verinnerlichten Opportunismus dieser Männer, die den verbrecherischen Wahnsinn des Nationalsozialismus mitgetragen hatten und nun so taten, als wären sie aus einem bösen Traum erwacht.

Schlüsse auf das im ehemaligen Jugoslawien Geschehene sind gestattet, aber mit Vorsicht zu ziehen. Das 20. und das frühe 21. Jahrhundert zwangen jeden, der über den Menschen nachdenkt, zur deprimierenden Korrektur eines wohl allzu optimistischen Menschenbildes. Die Nazis entsprachen diesem ebenso wenig wie MiloÇsevi´c, Mladi´c, Kara´ci´c, wie die einander abschlachtenden Nachbarvölker im Nahen Osten, wie die Hindus, die Moslems in ihren Häusern verbrennen.

Die sowjetischen Ankläger schossen sich das größte Eigentor der Justizgeschichte, als sie den Massenmord an den polnischen Offizieren in Katyn den Deutschen in die Schuhe zu schieben versuchten. Diese Anklage wurde wie eine heiße Kartoffel fallengelassen, nachdem die Verteidigung das Tu-quoche-Verbot unterlaufen und bewiesen hatte, dass diese Untat auf das Konto der Russen ging. Der Gesichtsverlust war nicht wieder gut zu machen. Heute weiß man: Stalin selbst hatte die Erschießung der polnischen Offiziere, die gegen Hitler gekämpft hatten, aber keine Kommunisten waren, befohlen.

Erdrückende Beweise

In Nürnberg wurde eine erdrückende Menge von Beweisen vor dem Gericht ausgebreitet. Deutschland war besiegt wie kaum ein Land zuvor, die Fahnder konnten ungehindert suchen, wo sie wollten. Das Problem der Ankläger war nicht der Mangel, sondern die Überfülle an Beweismaterial, das auch während des Prozesses laufend zum Vorschein kam und aus dem die richtige Auswahl zu treffen war. Acht zum Großteil ältere Männer saßen am Richtertisch, vier stimmberechtigte Richter und vier an den Beratungen beteiligte, nicht stimmberechtigte Ersatzmänner. Stalins Mann hatte gegen seine westlichen Kollegen wenig zu bestellen. Völlig übergehen konnten sie ihn auch nicht. Das Lebenslang für Heß, den sie freisprechen wollten, für den der sowjetische Richter aber den Tod forderte, wurde als Kompromiss zum auffallendsten Schönheitsfehler des Prozesses. Möglicherweise waren auch die Briten daran interessiert, Heß in der Versenkung verschwinden zu lassen. Auch Großbritannien widersetzte sich seiner Begnadigung. Bekanntlich beging er als 93-Jähriger im Spandauer Gefängnis Selbstmord. Dabei war Heß der einzige Verurteilte, dem kein Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Doch die Richter verurteilten keinen Angeklagten zum Tode, den sie nicht wegen Schuld oder Mitschuld an Mord und Massenmord für schuldig erkannten. Niemand wurde allein deshalb hingerichtet, weil er geholfen hatte, den Angriffskrieg vorzubereiten - eine ganze Reihe hingegen ausschließlich wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen, also klassischer Kapitalverbrechen.

Elf Angeklagte hörten das Urteil "Zum Tode durch den Strang": Frank, Frick, Göring, Jodl, Kaltenbrunner, Keitel, Ribbentrop, Rosenberg, Sauckel, Seyß-Inquart und Streicher. Nur einer von ihnen, Streicher, stand nicht im direkten Zusammenhang mit Morden, war aber einer der größten Pogromhetzer der Weltgeschichte.

Ihre Regierungen hatten die Richter nach Nürnberg entsandt. Die Urteile bewiesen, dass sie sich völlig von den als Ankläger amtierenden "Vätern des Prozesses" emanzipiert hatten. Die Unabhängigkeit des Gerichts erwies sich schließlich als das große Plus des Nürnberger Prozesses. Unter Lordrichter Lawrence entglitt der Nürnberger Prozess jeder politischen Regie. Genau dies wurde später zum Hemmnis für alle Versuche, Nürnberg zum Ausgangspunkt einer neuen, humaneren internationalen Rechtsordnung zu machen. Denn nicht nur das national gesinnte Deutschland empfand den Prozess als Stachel im Fleisch. Den Siegern, vor allem den amerikanischen Militärs, dürfte die Erinnerung an ihn zeitweise noch peinlicher gewesen sein. Gewiss hatte ein großer Teil der Gehenkten Verbrechen auf dem Gewissen, für die es bis Pol Pot, MiloÇsevi´c, Mladi´c & Co. kein Beispiel gab. Und ein Teil hatte Untaten begangen, mit denen niemand mehr konkurrieren konnte. Doch kein Vierteljahrhundert nach Nürnberg hätte nach den Kriterien, welche die Richter etwa im Fall des Generalobersten Jodl angelegt hatten, auch der eine oder andere amerikanische General wegen der Missetaten in Vietnam hängen müssen. Und einen klassischen Angriffskrieg hatten sogar zwei der im Tribunal vertretenen Mächte nur zehn Jahre später gemeinsam geführt. Anders kann man ja Englands und Amerikas Suezkrieg von 1956 nicht bezeichnen. Er blieb nicht der letzte.

Das Tribunal hielt Angriffskrieg nicht für ein Verbrechen, für das allein man hängen musste. Das ändert aber nichts daran, dass zum ersten Mal Politiker verurteilt wurden, weil sie den Frieden leichtfertig gebrochen hatten. Es ist daher nur zu verständlich, dass die usa jede Mitwirkung in Den Haag verweigern. Sind sie doch gerade jetzt drauf und dran, zur alten, schlechten Praxis der Großmächte zurückzukehren, ihr Recht "selbst in die Hände zu nehmen". Geben sie doch damit ein paar weniger großen Mächten das schlechte Beispiel, dessen Nachahmung wir bereits an mehreren Ecken der Welt erleben. Auch sie können Nürnberg nur als Stachel im Fleisch empfinden, als einen Versuch, den man besser nicht noch einmal wagt, weil das Ergebnis auf einen selbst zurückschlagen kann.

Greifbare Sterne?

Doch als Europa befand, es könne MiloÇsevi´c nicht der serbischen Justiz überlassen, setzte es ebenfalls eine Eigendynamik in Gang. Eine, in der Nürnberg Aktualität gewinnen musste. Jacksons Sterne eines neuen Völkerrechtes funkeln plötzlich wieder einmal greifbar nah am Himmel.

Sollte wider Erwarten und gegen jeden Augenschein seit dem Zweiten Weltkrieg doch ein Fortschritt auf dem Gebiet der politischen Moral eingetreten sein, hat der Nürnberger Prozess gewiss dazu beigetragen. Auch wenn in Nürnberg Fehler gemacht und Chancen vergeben wurden. Kommt man aber zur Ansicht, dass sich nichts, nichts, nichts geändert hat, dann war er in seinen besten Stunden wenigstens ein Versuch mit untauglichen Mitteln, die Dinge zu wenden. Statt ihn zu vergessen und zu verdrängen, sollten wir Jacksons Empfehlung folgen und die heutigen Taten der Sieger und Befreier von damals an den Maßstäben messen, die in Nürnberg gesetzt wurden.

Maßstäbe setzten freilich auch die hohen Anforderungen der Richter an die Beweise. Genau dies kann für das Gericht in Den Haag noch zum Problem werden.

Ende der Serie

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