Reichsstatthalter-hoff - © Foto: Bayerische Staatsbibliothek München Bildarchiv

„Schirach“ von Oliver Rathkolb: Ein gieriger Opportunist

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„Schirach“ von Oliver Rathkolb ist mehr als nur eine Biographie. Anhand der Figur Baldur von Schirachs wird das Psychogramm des bereits vor Hitler antisemitisch geprägten deutschen Bürgertums gezeichnet.

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„Schirach“ von Oliver Rathkolb ist mehr als nur eine Biographie. Anhand der Figur Baldur von Schirachs wird das Psychogramm des bereits vor Hitler antisemitisch geprägten deutschen Bürgertums gezeichnet.

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Baldur von Schirach, Hitlers „Reichsjugendführer“ und späterer Reichsstatthalter und Gauleiter von Wien, war eine noch immer unterbelichtete Nazigröße, bis Oliver Rathkolb sich seiner annahm. Das Werk „Schirach – Eine Generation zwischen Goethe und Hitler“ lässt kein Detail aus, fällt dabei aber nicht auseinander, sondern schließt sich im großen Bogen zum Psychogramm des von Adolf Hitler begeisterten, aber längst antisemitisch indoktrinierten Teiles des deutschen Bürgertums und Adels.

Der Schöngeist Schirach hält sich für einen Idealisten, macht Karriere in der NS-Hierarchie und wird dabei nicht nur zum Mitwisser, Helfershelfer und Anstifter der Mörder, sondern auch zum gemeinen Dieb. Eine exemplarische Vita. Sie steht für so manche. Der Vater war nach einer preußischen Offizierskarriere Hoftheaterintendant in Weimar geworden, die Mutter entstammte altem amerikanischem Geldadel. Drei Viertel der Vorfahren waren Amerikaner, unter ihnen ein Großvater, der am Sarg Abraham Lincolns Ehrenwache hielt, und ein reicher Sklavenhalter und Vorkämpfer gegen die britische Kolonialherrschaft. Eine solche Herkunft war genau das, was Hitler imponierte, aber der spätere Reichsjugendführer hängte sie öffentlich so wenig an die große Glocke wie die Tatsache, dass er bis zum sechsten Lebensjahr nur Englisch gesprochen hatte. Die Familie lebte herrschaftlich in Weimar, war antisemitisch bis in die Knochen und hasste die Demokratie.

Jung und hungrig

Baldur war 17, als er den Weimar besuchenden Hitler kennenlernte, war hellauf begeistert, machte sich bei ihm beliebt, war mit 21 Jahren Reichsführer der NS-Studenten, ohne ernsthaft zu studieren, und mit 24 Jahren Reichsjugendführer. Er wurde Hitlers bester Propagandist, bei der Jugend hatte er mehr Erfolg als Joseph Goebbels. Junger Hungriger erkennt den kommenden Mann, in dessen Windschatten man etwas werden kann, ergibt sich ihm mit Haut und Haar, steigt auf und wird auch etwas, aber nichts Erfreuliches. Sein Karrieremodell ist nach wie vor allenthalben in Gebrauch. Dass er Henriette, die Tochter von Hitlers Leibfotograf und Freund Heinrich Hoffmann, heiratet, passt ins Schema.

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