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Schirachs Machtergreifung

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Gegen Jahresende, knapp vor dem „Julfest“ 1939, herrscht im Rathaus der Reichs- und Gaustadt Wien nahezu hektischer Betrieb. Zunächst versammeln sich, zumeist in braune oder schwarze Uniform gekleidet, die neuen Repräsentanten der Stadt im ehemaligen Gemeinderatssitzungssaal. Am Nachmittag des 20. Dezember 1939, als es draußen schon dunkel wird, hält Bürgermeister Dipl.-Ing. Neubacher von seinem erhöhten Sitz aus den Ratsherrn eine Art Weihnachtsansprache. Seinen Worten nach „haben wir Ungeheueres erlebt. Wir sahen zwei Staaten, die sich gegen das Reich Adolf Hitlers gewendet hatten, von der Landkarte Europas verschwinden, den zweiten Staat erst im letzten Drittel dieses Jahres unter dem Donner der Kanonen und dem Getöse des bewaffneten Aufmarsches der Völker von Europa. Und jetzt geht dieses Jahr in einer seltsamen Stille zu Ende. Es ist so, als wollte die Zeit Atem holen vor noch gewaltigeren Ereignissen“. Neubacher gedenkt dann der Gefallenen und des „geistigen Führers, Staatsmannes und Feldherrn“, also jenes Mannes, der sich nun irgendwo in dieser seltsamen Stille — über die Friedensbemühungen des Papstes, über die Unselbständigkeit Mussolinis, die Borniertheit der französisch-englischen Offizierskamarilla und die altmodischen Schwerfälligkeiten der Neutralen lustig macht. Aber davon weiß niemand im Gemeinderatssitzungssaal.

In Österreich schienen sich die Nationalsozialisten überhaupt an nichts mehr zu erinnern, zumal Bruno Brėhm kürzlich in der Zeitschrift „Wehrmacht“ mitgeteilt hatte, daß weder seine Wenigkeit „noch irgendein anderer Deutscher dieses Maß an Niedrigkeit aufbrächte, in einer von den Feinden wieder er richteten Monarchie auch nur einen Tag leben zu wollen, ohne vor Scham und Schande zu ersticken“. Brehm setzte sich auf diese Art mit dem „dummen Rätselraten eines verständnislosen Auslandes auseinander, das im Lande Österreich noch eine offene Frage sieht“.

Im „Völkischen Beobachter“ tobte Leo Schödl zur selben Zeit gegen eine Revue des Wiener Stadttheaters, die sich auf Altreichtournee befand und dort auf hergebrachtösterreichische Weise um die Gunst des anspruchslosen , Publikums warb. Die an sich vielleicht berechtigten künstlerischen Einwände Schödls muten im Wiener Parteiblatt eigentlich eher wie Vorwände an: Man will einfach nichts typisch österreichisches mehr exportieren, egal, ob es nun schlecht oder gut angeboten wird.

Neubachers Rückzug

Der Sportführer Kozich, der seinerzeit als Vizebürgermeister und SA-Gewaltiger ins Rathaus eingezogen war, befaßte sich im Frühjahr 1940 öfters mit europäischen Südostfragen. Allerdings war es ihm bedeutend- lieber, wenn er in seinen Amtsräumen die Turm- und Kunst- springerinnen Eckstein, Hartenstein und Ali Pascha, eine kleine Wienerin, deren- Talent zu Olympiahoffnungen berechtigte, empfangen durfte. Auch die Tischtennismeister begeben sich zu Kozich und erfahren von ihm, daß er sie für die neue Sportlehrernadel vorgeschlagen hat. Sein Amtskollege Blaschke empfängt währenddessen die Teilnehmer an der Arbeitstagung der Deutschen Fachschaft für Sang- und Sprech- kultur. Am 29. April 1940 aber wird dieser Kleinkram jäh unterbrochen. In der 4. öffentlichen Sitzung der Ratsherrn der Stadt Wien blickt der stellvertretende Gauleiter Scharizer als anwesender ranghöchster Wiener Funktionär die Versammelten mit ausdruckslosen Augen an und entschuldigt den angeblich aus Dienstgründen abwesenden Bürckel. Dann verkündet er, daß Dipl.-Ing. Hermann Neubacher durch einen Sonderauftrag über die Kriegszeit von Wien scheiden werde und daher einen allgemeinen -Vertreter brauche. Diesen präsentiert Scharizer (vorsichtig) in der Person des hessischen Regierungspräsidenten Philipp Wilhelm Jung, der sich damit erstmals in größerem Kreise bemerkbar macht.

Jung übernimmt hernach den Vorsitz und entschuldigt sich nun seinerseits, daß ausgerechnet er vor 14 Tagen überraschend nach Wien geholt worden sei. Er habe daher kein Programm anzubieten. Der Rest seiner Ansprache besteht aus allgemeinen Phrasen und man glaubt ihm fast, wenn er sagt, daß er lieber als Batteriechef an der Front stünde als jetzt im Wiener Ratsherrnsaal.

Der Bürgermeisteraspirant aus Hessen setzt sich nieder, Blaschke steht auf und berichtet unbewegt über die Entlehnungsgebühren der städtischen Büchereien und über die neuen Fremdenverkehrskurse. Kozich referiert über ein Dutzend privater Sportplätze,, die von seinem Amt für Leibesübungen übernommen werden sollen.

Schon Tags darauf macht der Beigeordnete Blaschke einen Blitzbesuch in Budapest. Etwas später kommt er vor bulgarischen Erziehern im Steinernen Saal des Wiener Rathauses zu Wort, denen eine große Wiener „Südostwoche“ angekündigt wird, wobei Kunst und Kultur aus Sofia entsprechend vertreten sein sollen. Die Gaustadt beginnt offensichtlich auch auf dem kulturellen Sektor in ihre neue Südostrolle hineinzuwachsen.

Inzwischen ist der offizielle Geburtstagsrummel zu Franz Lehars siebzigstem Wiegenfest losgegangen. Der unsichtbar gewordene Bürckel hat ihm schriftlich gratuliert und den Ehrenring der Stadt Wien in Aussicht gestellt. Lehar widmet aus Dankbarkeit die neu geschaffene Festouvertüre zur „Lustigen Witwe“ der Stadt Wien und übergibt am 23. Mai 1940 das Partiturmanuskript dem Regierungspräsidenten Jung feierlich im Rathaus. Die Witwenouvertüre war schon am 5. Mai 1940 beim philharmonischen Konzert im Großen Konzerthaussaal als Eröffnung des Festprogrammes zur Aufführung gelangt. Lehar brachte übrigens die „Lustige Witwe“ sogar als glanzvolle Revue in Berlin heraus.

Aber auch Tondichter des Altreiches ließen sich in Wien hören. Der

80jährige Baron Emil von Reznicek, dem Wien für seine Komponistenvereinigung noch viel Geld geben muß, besuchte die Gaustadt, um in der Staatsoper eine Aufführung seiner „Donna Diana“ vorzubereiten. Schnell schickte das Kulturamt Professor Fuchs dem alten Herrn aufs Hotelzimmer, damit ein Portrait für die Ehrengalerie der Städtischen Sammlungen angefertigt werde. Im Wiener Cafe Herrenhof entwik- kelten die Kulturamtsleute zur selben Zeit gottloses Brauchtum bezügv lich der „Namensgebung“ Neugeborener und ließen die Standesämter Wiens durch allerlei braunes Zierat ausschmücken, auf daß die Frequentanten noch vor der Hochzeitsnacht an Volk und Staat erinnert würden.

Bürckel weicht Schirach

So rückt der 10. August des Jahres 1940 heran und damit die 5. öffentliche Versammlung der Ratsherrn der Stadt Wien. Zwei Vorsitzende thronen auf einmal vor den Erschienenen: Reichsstatthalter Gauleiter Josef Bürckel und Reichsleiter Reichsstatthalter Gauleiter Baldur von Schirach. Ersterer teilt mit, daß ihm der Führer einen neuen Auftrag gegeben habe und stellt Schirach den „alten Marschierern der Partei“ als neues Wiener Oberhaupt vor. Diese alten Marschierer und Blutordensträger raufen im Geist immer noch mit dem Erscheinungsbild des österreichischen Menschen herum, ein seelisches Trauma, das die Altreichsdeutschen peinlich berührt und wenig interessiert. Der Gemeindefunktionär Dr. Tavs meldet sich in diesem Sinn auch gleich zu Wort und macht bekannt, daß gemäß einer „Entschließung des Bürgermeisters der Dr.-Ignaz-Seipel-Ring von nun an Josef-Bürckel-Ring heißt“. Außerdem wird Bürckel auf Grund der deutschen Gemeindeordnung und im Einverständnis mit dem Beauftragten der NSDAP, SS-Oberführer Pg. Scharizer, zum Ehrenbürger der Stadt Wien ernannt. Anschließend feiert Dr. Tavs den neuen Ehrenbürger enthusiastisch, weil er „dem Spuk des Zerrbildes eines separatistischen, reichsfeindlichen, besonderen österreichischen Menschen und der plutokratischen, politischen Schachfigur eines separatistischen zweiten deutschen Staates jede politische Wirklichkeit ein für allemal genommen hat. Der Stadt Wien erwies Gauleiter Bürckel noch einen zweiten Dienst, den allein wir Wiener richtig zu würdigen verstehen. In der Zeit, da seine starke und energische Hand führte, verließen mehr als zwei Drittel aller jüdischen, östlichen Fremdlinge unsere Stadt.“ Wie hieß es doch in der alten österreichischen Volkshymne, die Dr. Tavs sicher noch gekannt hat, so anders als jetzt: „ … führe uns mit weiser Hand!“

Die starke und energische Hand hob sich zwei Tage später vor der Flugzeugtür am Rollfeld Aspern letztmalig zum deutschen Gruß an die erschienenen Parteiführer, Staatsrepräsentanten und Stadtverwalter Wiens. Baldur überreichte Frau Bürckel zum Abschied eine prachtvolle Blumenspende. Dann wurden die Motoren angeworfen, die Maschine hob ab und ein dunkler Abschnitt der Geschichte Wiens war für immer erledigt.

Wenn wir dieses Lebewohl einer ersten Analyse unterziehen, so erscheint das Ergebnis für die Stadt im allgemeinen, wie für die alten Wiener Nationalsozialisten, die politischen Leiter usw. im besonderen überaus deprimierend. Während sich damals mit Ausnahme Kärntens, wo ein Regierungspräsident zeitweilig die Geschäfte führte, alle Ostmarkgaue in den Händen landeseigerier Statthalter befanden, wurde die Reichs- und Gaustadt Wien in fast allen ihren Spitzenpositionen systematisch von Altreichsdeutschen durchsetzt. Bürckel mochte vielleicht als eine Art Übergangslösung betrachtet worden sein, der neue Reichsstatthalter war es bestimmt nicht. Der künftige Wiener Bürgermeister aus Hessen rundete das Bild ab, das die alte österreichische Garde Hitlers nur noch ganz im Hintergrund zeigte.

Die braunen Repräsentanten Wiens mußten Zusehen, auf- welche Weise sie mit diesem Mißtrauensvotum innerlich fertig wurden. Ihre andauernde, ekstatische Führerliebe hat ihnen dabei zweifellos ebenso geholfen wie das eigene schlechte Gewissen wegen gewisser menschlicher Schwächen, die sie sich während der Kampfzeit und nach dem Umbruch erlaubten. Besonders ärgerlich mag gewesen sein, daß vielen von ihnen die Bewährung oder Rehabilitierung nur fernab der Heimat gewährt wurde, und dies meist in einer Art, die rangmäßig weit unter dem Niveau des Einzelgängers Seyß-I-nquart und seiner wenigen Freunde aus Österreich lag.

Zusammenfassend dürfen wir daher feststellen, daß die Reichsführung dem abgeschlagenen Kopf des Anno 1918 zerteilten österreichischen Riesen weiterhin mißtraute,, anderseits aber mit diesem Schädel im Südosten Europas noch allerhand vorzuhaben schien.

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