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Das Urteil

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Am 1. Oktober 1946 hörte die Welt zum erstenmal das Urteil eines internationalen Gerichtshofes über Politiker und Militärs eines besiegten Staates. Es bedeutet mehr als die Sühne für die Schuld einzelner Mensche. Der Nürnberger Prozeß hat neues internationales Recht geschaffen. Er konnte dabei nicht an bereits Besteheades anknüpfen. Den Schöpfern dieses neuen Rechtes war es wohl bewußt, daß hier eine gewisse Schwäche vorliegt. Die vom USA-Ankläger, Oberrichter R. H. Jackson, vorgetragene Anklagerede ging dieser Tatsache nicht aus dem Weg: „Das Völkerrecht kann sich nicht auf dem üblichen Wege der Gesetzgebung entwickeln, denn es gibt keine ständige internationale gesetzgebende Körperschaft... Das Recht war, soweit Völkerrecht überhaupt in Gesetze gefaßt werden kann, klar ausgesprochen, als die Taten, über die wir hier verhar, 'In, begangen wurden ...“ Auch sei — heißt es weiter in der Anklage — seit Jalta und San Franzisko allgemein bekannt gewesen, daß dfe Kriegsverbrecher zur Rechenschaft gezogen werden. Den Angeklagten sei jedoch „Völkerrecht, natürliches Recht, deutsches Recht, jedes Recht... nur eine Propagandaformel“ gewesen. „Diese Männer können nicht beanspruchen, daß solch ein Grundsatz — daß wir Gesetze mit rückwirkender Kraft für ungerecht halten — auch für sie wirksam sein müsse.“

Was den Schuldbegriff im allgemeinen betrifft, handelt es sich im Falle der deutschen Kriegsverbrecher vor allem um die Schuldfrage von Politikern und Militärs hinsichtlich des Krieges. Die Anklageschrift bezog den Standpunkt, daß der A n-griffskrieg — im Gegensatze zum „ehrlichen Verteidigungskrieg, der, in den Schranken des Rechtes geführt, nicht ungesetzlich ist und vor strafbarer Schuld bewahrt“ — durch die internationalen Abkommen zwischen 1924 und 1928 völkerrechtlich geächtet war und daß Deutschland nicht nur als Vertragspartner (Briand-Kellog-Pakt), sondern auch gebunden an seine Verfassung, die die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechtes als Reichsrecht übernahm, offenkundig verbrecherisch gehandelt habe, als es 1939 „in Verletzung von neun Verträgen“ Polen angriff und weitere Angriffskriege unternahm. Bei aller Eindeutigkeit des Angreifers im Falle Deutschlands regt die Anklageschrift an, den Angreiferbegriff endgültig international ebenso festzulegen, wie es beim Recht der Notwehr und der Rechtmäßigkeit der einem angegriffenen Staate geleisteten Waffenhilfe bereits geschehen ist.

Die Schuld am Angriffskrieg kann freilich nur die Politiker belasten, nicht aber die Militärs, soweit sie nicht als Politiker tätig waren. Die Militärs trifft viel härter die Schuld an den Verbrechen gegen das Kriegsrecht und die Menschlichkeit. Diese Schuld besteht in der ehemaligen deutschen Wehrmacht in der planmäßig herbeigeführten Entartung der Kampfführung, die ehrliche, ritterliche, humane Kriegführung vielfach in Massenmord, Raub, Plünderung und Unmenschlichkeit umgebogen zu haben. Die Geschichte kennt so manche Soldaten, die sich vor dem irdischen Richterstuhl zu, verantworten hatten, von Nikias über Kara Mustafa, Fink und Mack bis zu Bazaine und Stoeßel, doch keiner war wegen Verletzung der ewigen Gesetze des Soldatentums angeklagt, sondern ausschließlich wegen, einer erlittenen Niederlage. Seine Pflicht als Soldat erfüllen, ob ais Generalstabsoffizier im Mobilisierungsbüro oder als Bombenflieger, ist nicht strafbar, aber unsoldatisch handeln, Gesetze mißachten, Verträge brechen, Ethik und Moral beiseiteschieben, niedermetzeln und brennen, das bleibt für immer verwerflich, und das ist die Hauptschuld der Militärs, die in Nürnberg auf der Anklagebank saßen.

Als Hauptzweck des Prozesses bezeichnete die Anklageschrift, „eine rechtliche Sicherung zu schaffen, daß, wer einen Krieg beginnt, auch persönlich dafür zahlt“, und die Niederringung jener „finstersten und unheilvollsten Mächte der menschlichen Gesellschaft — für die die Angeklagten hier stehen —: Herrschaft der Gewalt und Unterdrückung, Bosheit und Leidenschaft, Militarismus und Rechtlosigkeit“. Den vier Anklagepunkten gemäß könnte der Prozeß einen Wandel der Menschheit ein- , leiten: schon während des Friedens Kriegsursachen ausschalten, nie einen Angriffskrieg entfesseln, die Gesetze der Menschlichkeit durch Belebung von Religion, Ethik und Moral zur Geltung bringen und durch Befolgung des Völkerrechtes die Achtung aller Mitmenschen, am Kampffelde auch des Feindes, beweisen.

Von den acht angeklagten „Gruppen und Organisationen“ wurden die SS, der SD und die Gestapo als verbrecherische Organisationen für schuldig erklärt, womit die Kollektivschuld großer Gemeinschaften anerkannt wird. Kollektivschuld gab es bisher nur im Sinne einer Wiedergutmachungspflicht durch ein ganzes Volk, wie sie nach den beiden letzten Weltkriegen außerhalb finanzieller Kriegsentschädigungen in den personellen und materiellen Wiedergutmachungsleistungen zum Ausdruck kommt. Wie sich die an einzelnen Organisationen festgestellte Kollektivschuld auswirken wird, bleibt abzuwarten.

Das Reichskabinett, das als solches praktisch nicht in Erscheinung trat, das OKW, dessen verantwortlichste Leiter persönlich angeklagt wurden und der Generalstab wurden nicht zu verbrecherischen Organisationen erklärt. Der Generalstab hat allerdings durch die wirklich „einmalige“ Niederlage der deutschen Wehrmacht von der Geschichte eine Verurteilung erfahren, wie sie ein Gerichtshof nie hätte aussprechen können Die politischen Leiter und die SA scheinen außer acht gelassen worden zu sein.

Der Nürnberger Prozeß bliebe unvollständig, würde nicht die UNO jetzt darangehen, ein allgemeinverpflichtendes internationales K r i e g s v e r b r e c h e n-g e s e t z ins Leben zu rufen, das einerseits mit dem Exekutionskrieg der UN und dem aufrechtbleibenden nationalen Abwehrkrieg vereinbar ist, andererseits den rechtmäßigen Landesverteidiger nicht in Gewissenskonflikte bringt, wenn etwa die nicht restlos durchdachte Formel „T a t auf Befehl entschuldigt nicht“ zu allgemein und willkürlich ausgelegt würde.

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