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Sarajewo und Marseille

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Vor mehr als 25 Jahren, am 9. Oktober 1934, kurz nach 16 Uhr, fiel Alexander von Jugoslawien, der soeben zu einem Staatsbesuch in Frankreich eingetroffen war, auf der Cannebiere in Marseille einem Mordanschlag zum Opfer. An seiner Seite starb, unter den Kugeln des Attentäters, Frankreichs Außenminister Louis Barthou. Tödlich getroffen wurden auch zwei Frauen, die in der die Straße säumenden Menge standen, und ein Polizist: zehn andere Personen kam mit leichteren Schußverletzungen davon. Der Mann, der dieses grauenhafte Verbrechen begangen hatte — man fand bald heraus, daß er ein mazedonischer Terrorist war, bekannt als „Vlada Makedonski“ —, konnte vor kein irdisches Gericht gestellt werden: er war von den erbitterten Zeugen der Untat an Ort und Stelle gelyncht worden. Wenn die Nachricht von dem, was sich an jenem Unglückstag zugetragen hatte, von der damals noch nicht so abgehärteten Weltöffentlichkeit mit Erschütterung vernommen wurde, so gaben sich wohl nur wenige Rechenschaft über die volle Tragweite des blutigen Geschehens. Unter den führenden Staatsmännern seiner Epoche gab es keinen, der so klar wie Barthou die tödliche Gefahr für die Völker Europas erkannt hätte, die mit der Machtergreifung Hitlers entstanden war, und so durchdrungen gewesen wäre von der Notwendigkeit, dieser Gefahr rechtzeitig und entschlossen zu begegnen. Ob es der Klugheit und Energie des hervorragenden Außenpolitiken hätte gelingen können, aus der durch innere Schwäche und Uneinigkeit zersetzten Kleinen Entente eine wirksame Waffe zur Abwehr des nazideiitschen Imperialismus zu schmieden, muß eine offene Frage bleiben; aber darüber kann kaum ein Zweifel bestehen, daß Frankreich, wäre Louis Barthou noch am Leben gewesen, nötigenfalls auch allein dem Rheinlandabenteuer Hitler einen eisernen Riegel vorgeschoben und damit, aller Wahrscheinlichkeit nach, der weiteren, verhängnisvollen Entwicklung einen völlig anderen Verlauf gegeben haben würde. Solche Erwägungen, so naheliegend sie bei jeder Betrachtung der Marseiller Tragödie auch sind, finden in dem vorliegenden Buch keinen Raum. Das soll dem Autor nicht zum Vorwurf gemacht werden, wohl aber die ressentiment-beladene Einseitigkeit, mit der er den eigentlichen Gegenstand seiner Darstellung, die Hintergründe des Königsmordes, behandelt. Diese Hintergründe liegen weiter zurück als, wie er glaubhaft machen will, die Machenschaften einer kleinen Gruppe emigrierter kroatischer Radikaler, die unter Führung des „Poglavnik“ Ante Pavelic und nach Kräften gefördert von den Beauftragten Mussolinis, die Fäden der Verschwörung knüpften, die der Beseitigung des Königs Alexander galt. Sie liegen in der bitteren Enttäuschung, die sich schon bald nach ihrer „Befreiung aus dem österreichischen Völkerkerker“ unter den Kroaten verbreitete, als sie entdecken mußten, daß das neugeschaffene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen in Wirklichkeit ein Großserbien war, das seinen Bürgern nichtserbischen Stammes bloß die Rolle minderberechtigter Untertanen zugestehen wollte. Durch den Staatsstreich von 1929, der den König aus serbischem Haus in den Besitz diktatorialer Gewalt brachte, wandelte sich Enttäuschung zu Haß. Und wohin das Wiederaufleben der alten, tief verwurzelten kroatisch-serbischen Feindschaft geführt hat, das zeigte sich deutlich genug 1941, bei der deutschen Invasion, im Verhalten der kroatischen Truppen der jugoslawischen Armee, die nicht daran dachten, ihre Haut für Großserbien zu Markte zu tragen; und es zeigte sich in der erbarmungslosen Grausamkeit, mit der die Kroaten in den drei Jahren ihre Eigenstaatlichkeit alles, was serbisch war, und jeden Verrat an der kroatischen Sache verfolgten. Die persönliche Verantwortlichkeit des „Poglavnik“ für viele der Greuel, die unter seinem Regime verübt worden sind, ist ebensowenig zu leugnen wie seine Urheberschaft an dem gegen König Alexander gerichteten Mordkomplott, und kein über ihn gefälltes Urteil kann daher scharf genug sein. Aber wenn die Verdammung von einem Mann ausgesprochen wird, der, wie Vladeta Militevic, ein Agent der berüchtigten jugoslawischen Geheimpolizei war, sich der dunkelsten Elemente bediente, um die Organisation des Pavelic zu durchsetzen, und seine sittliche Entrüstung darüber registriert, daß einige seiner Spitzel ihr lichtscheues Treiben mit dem Tod büßen mußten, anderseits aber mit keinem Wort die Unmenschlichkeit kritisiert, mit der die kommunistischen Partisanen Titos ihren Rachefeldzug gegen Kroatien geführt haben, an bestialischer Mordlust wie in der Zahl ihrer Opfer die Ustasi noch weit übertreffend, dann kann man sich des peinlichen Gefühls nicht erwehren, daß hier ein Fall vorliegt, wo der Richter keineswegs auf einer höheren moralischen Stufe steht als die Sünder, über die er den Stab gebrochen hat. Ob MiliCevic bei der Abfassung seines Buches daran gedacht haben mag, daß bei Anwendung des gleichen „moralischen“ Maßstabs, der der Errichtung eines Denkmals für einen Meuchelmörder namens Gavrilo Princip zugrunde lag, auch dem „Vlada Makedonski“ ein Gedenkstein gesetzt werden könnte? Wahrscheinlich nicht. Wer aber bestimmt daran gedacht hat, war J. Paul-Boncour, der ehemalige Ministerpräsident, der als eminenter Jurist mit der Rechtsvertretung der Königinwitwe Maria betraut worden war und beim Studium des Falles die vielfachen Parallelen zwischen dem Mord von Sarajewo und dem Mord von Marseille einer eingehenden Betrachtung unterzog. Das kommt in dem Abschnitt seiner Memoiren, der dem Buch angefügt ist, unzweideutig zum Ausdruck.

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