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Das innerste Südtirol

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Man löst ein großes, komplexes Problem, wie es die Südtirolfrage ist, indem man es in die Detailprobleme au/löst und diese löst. Diesen Weg der evolutionären Lösung, diese Politik des einen Schrittes nach dem anderen hat die Neunzehnerkommission gewählt und ihrerseits vorgeschlagen; den gleichen Weg haben auch Kreisky und Saragat zu gehen versucht. Daß die von den neunzehn wie von Kreisky-Saragat erreichten „Resultate” bis heute auf dem Papier geblieben sind, bedeutet nicht, daß die Methode nichts taugt.

Die Wahl der neuen Methode bedeutet, daß man darauf verzichtet, eine absolute, eine ein für allemal gültige Lösung zu finden, eine Lösung, die das Problem für immer schließt, die nicht zuläßt, daß man es wieder „aufmacht”; die Wahl dieser Methode bedeutet ferner, daß man das Südtirolproblem wieder als Problem der Menschen zu sehen anfängt, als Problem jener Menschen, die es angeht, und nicht als Problem der Auslegung und Ausdeutung internationaler oder nationaler Paragraphen.

Was, so gesagt, nur als neue Attitüde erscheint, ist in Wahrheit die allmähliche Rückkehr zu Formen einer humanistischen Demokratie, die Abkehr von jener Scheindemokratie, die sich damit begnügt, jeweils Majoritäten zu konstruieren und mit ihnen selbstherrlich zu regieren. Es setzt sich — allmählich, langsam und durch außerpolitische Impulse gefördert — die Erkenntnis durch, daß Mehrheit nicht nur Privileg, sondern Verpflichtung ist — daß sich die den Staat regierende Mehrheit um einen möglichst breiten Consensus bemühen muß, daß sie auch jenen verpflichtet ist, die aus irgendeinem Grund nein zur Mehrheit, nein zur Regierung, nein zum Staat oder zu der gerade gegebenen Form des Staates sagen.

Humanistische Demokratie

Rückkehr zur humanistischen Demokratie: das ist, nicht nur von den. „Neinsagern” her gesehen, ein revolutionärer Begriff. Wenden wir ihn auf Südtirol an, so bedeutet er, daß Fragen wie Gleichberechtigung der Sprache, Pressefreiheit, Schulunterricht in der Muttersprache, Gebrauch der Landessprache in allen öffentlichen Ämtern, Partizipderung an den Massenmedien in der Muttersprache nicht Angelegenheit irgendeines Autonomiestatuts sein können, weil dies Fragen des Menschenrechts sind; er bedeutet, daß das heutige Autonomiestatut einer überwundenen Epoche angehört, der des Nationalismus.

Wenn die Minderheit dies erkennt, wenn sie imstande ist, diese Attitüde zur ihren zu machen, so wird sie aufhören, einen nationalen Abwehrkampf zu führen, so wird sie aus ihrer defensiven Getto-Stellung herausfinden, so wird sie mit größerer Selbstverständlichkeit von Rechten Gebrauch machen, die — als nationale Rechte verstanden und gegen nationale Vorrechte gesetzt — stets den Schein des nationalen Kampfes tragen.

Die Änderung der geistigen Haltung in Italien gegenüber den Minderheiten (und zwar gegenüber den Slowenen genauso wie gegenüber den Südtirolern) fällt mit zwei Ereignissen zusammen:

1. mit der Schaffung der „Centro- Sinistra”-Regierungen;

2. mit der Veröffentlichung der Enzyklika „Pacem in terris” von Papst Johannes XXIII. im Märs 1963. In dieser Enzyklika heißt es unter anderem: „Es ist ein Erfordernis der Gerechtigkeit, daß die öffentliche Macht ihren Beitrag zur menschlichen Entwicklung der Minderheiten leiste, indem sie wirksame Maßnahmen zur Förderung ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihrer Sitten, ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten und Initiativen trifft.” Hier ist kurz zusammengefaßt, was zum Beispiel der Pariser Vertrag meint, wenn er von der „Gewährleistung der… Entwicklung” spricht. Entwicklung ist nicht Abwehr, sondern Fortschritt; Entwicklung ist nicht Defensive, sondern Angriff.

In und mit dem Staate leben

Der Kern des Südtiroiproblems liegt also im Gefälle, in der Differenz zwischen den Begriffen „Erhaltung der Volksgruppe” (besser: Bewahrung der volklichen Existenz) und dem Gegenbegriff „kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung”. Erhalten kann sich auch der Käfer, der sich angesichts der Gefahr totstellt; ein Beispiel nationaler; Erhaltung haben wir bei den Slowenen des sogenannten slowenischen Venetiens vor uns, kleiner Gebirgsgegenden in der Provinz Udine; die Slowenen haben seit 1866 keine slowenische Schule, kaum slowenische Predigten und nur eine rudimentäre slowenische Presse, aber sie sind bis heute Slowenen geblieben, wenngleich auf unterstem Niveau — eben jenem der primitiven Konservierung, der Konservierung eines Kerns nur, da jeder, der nach Udine oder sonst irgendwohin abwandert, der ursprünglichen Nationalität verlorengehen muß, da ihm diese ja nichts bieten kann.

„Kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung” aber bedeuten nicht nur: Ausbruch aus dem Getto, Fortschritt, Angriff, sie erfordert auch — und Papst Johannes XXIII. hat dies richtig festgestellt —, „daß die Minderheit ihr eigenes Wesen durch die Werte der fremden Tradition und Kultur bereichere” und daß sie „die Bedeutung der sie charakterisierenden nationalen Elemente nicht höher stelle als die menschlichen Werte”. Deutsch gesagt: Die Minderheit kann zum Staat, in dem sie lebt, nein sagen — nein in dem Sinn, daß sie das Verhältnis des Staates zur Minderheit, daß sie die gesellschaftliche und administrative Ordnung im Staat verändern will. Die Minderheit darf aber nicht nein sagen zu ihrem Leben, zu ihrer Entwicklung im Staat. Sie muß „mit dem Staat leben”, auch wenn sie ihn nicht will, und keine politische Führung hätte das Recht, in einem demokratischen Staatsgefüge, das Möglichkeiten zur Entfaltung, zur Entwicklung bietet, die Minderheit so zu führen, daß ihr Entfaltung und Entwicklung unmöglich gemacht würden.

Kampf dem Mythos

Es geht vor allem um eines: um die Entmythisierung der Südtirol- frage und der öffentlichen Meinung bei den Südtirolem. Seat 1918, seit dem Einmarsch der italienischen Truppen in Bozen und Brixen, besteht die Geschichte Südtirols im wesentlichen in einem negativen Heldenepos. Wir haben Tolomei überlebt. Wir haben Mussolini überlebt. Wir haben uns nicht entnatio- nalisieren lassen. Wir sind wir geblieben.

In diesem „Wir sind wir geblieben!” steckt eine erschreckende Wahrheit. Wir sind so sehr Wir geblieben, daß wir den heutigen „Kampf” mit Begriffen führen, die aus den Jahren 1900 bis 1914 stammen! Wir sind heute noch auf das Jahr 1809 fixiert; Andreas Hofer ist uns nicht eine heldenhafte Gestalt unserer Vergangenheit, nicht eine historische Rebellengestalt, sondern aktuelles Vorbild.

Die Südtiroler beherrschen die Methoden, die Termini, die soziologischen Elementarkenntnisse des modernen gesellschaftlichen Lebens, der heutigen Politik nur ungenügend; sie haben mit beträchtlichem Publicity-Erfolg Andreas Hofer zum Helden des anonymen Plastikbombenterrors, zum Helden der Überfälle aus dem nächtlichen Hinterhalt gemacht. So sehr ich Männer wie Sepp Kerschbaumer, den ich persönlich kannte, schätze, bin ich doch der Meinung, daß hier ein übler Unfug mit der eigenen Vergangenheit vorliegt; oder, noch ärger: eine üble Verführung, die sich auf die Vergangenheit beruft. Bei Kerschbaumer und seinen Freunden waren die Bomben die Folge der „verstümmelten Ausdrucksmöglichkeiten”: die eigene Vergangenheit bot ihnen keine andere Form des Protestes an als die Bomben; die Gegenwart im eigenen, überschaubaren Lebensbereich lehrte sie nichts anderes — sie kannten keine andere Form der sozialen, politischen „Explosion” als eben die Explosionen von Bomben. Es gereicht diesen Männern zur Ehre, daß sie dabei Menschenleben zu schonen versuchten, daß sie sich — ohne eitle Heldenpose — zu ihrem Tun bekannten, obschon dies mit der Gefahr langer Strafen in italienischen Gefängnissen verbunden war, daß sie ihr Tun mit schlichten menschlichen Motiven begründeten.

Helden oder Verbrecher . . .

Damit sind freilich auch die nicht- südtirolischen Professionisten des Terrors hinlänglich charakterisiert, die vor Gerichten, die keine „Gefahr” für sie bedeuten, nicht nur die Verantwortung für die wenigen eigenen „Heldentaten” auf sich nehmen, sondern die alles organisiert, alles getan, alles angeregt, alles höchst uneigennützig finanziert, in die Wege geleitet und durchgeführt haben wollen. (Wobei mich immer wieder die Frage beschäftigt: Wie können Burger und Kienesberger jahrelang davon leben, daß sie „Helden” oder „Angeklagte”, beziehungsweise daß sie angeklagte Helden sind?)

Südtirol und Venezia Giulia

Entmythisierung des Südtiroler „Abwehrkampfes”. Hierzu auch Zahlen:

Unter dem Faschismus waren rund 200 Südtiroler zum „Confino” verurteilt. Aber schon in den ersten Jahren der italienischen Besetzung der sogenannten Venezia Giulia wurden weit über tausend Slowenen und Kroaten in das Confino verschickt.

Das faschistische Sondergericht (Tribunale Speciale), das von 1927 bis 1943 funktionierte, hat insgesamt 4596 italienische Staatsbüger verurteilt, davon 42 zum Tode und drei zu lebenslangem Zuchthaus. 16 der Verurteilten waren Südtiroler. Die Höchststrafen betrugen bei ihnen acht, sechs und viereinhalb Jahre; insgesamt handelte es sich um rund 46 Jahre.

Als Gegenbeispiele einige Verfahren aus der Venezia Giulia:

Die Urteile 27, 28 und 29 (Mai 1929) betreffen 23 slowenische Bürger aus Görz und Triest, die samt und sonders als Kommunisten katalogisiert wurden. Die Anklage: Ermordung des faschistischen Spitzels Vittorio Kogoj. Der Hauptangeklagte erhielt 30 Jahre Kerker. Kleinere Angeklagte, wie der damals 18jährige Dusan Hreskac, heute Stadtrat in Triest, erhielten 17 Jahre.

Am 16. Oktober 1929 wurde Wladimir Gortan wegen „slawischem Terrorismus” zum Tode verurteilt; vier Mitangeklagte erhielten je 30 Jahre Kerker.

Am 25. Februar 1930 wurden 13 Bauern aus Maresego in Istrien wegen angeblicher KP-Betätigung, Irredėntismus und Nationalismus zu Strafen zwischen 20 und 3 Jahren verurteilt.

Am 26. November 1931 erhielten in Pola der Ungar Leo Weiczen, drei Italiener und fünf Slawen wegen illegaler kommunistischer und irre- dentistischer Betätigung Strafen zwischen zwölf und drei Jahren.

Wegen eines angeblichen Hinterhalts auf Finanzieri wurden am 23. Februar 1932 13 slowenische Bauern aus der Umgebung von Görz zu Kerkerstrafen zwischen 30 und 20 Jahren verurteilt. Höchstwahrscheinlich waren alle 13 schuldlos.

Auf zwei Prozesse soll noch besonders hingewiesen werden: Am 5. September 1930 verhängte der Tribunale Speciale vier Todesurteile gegen Slowenen, denen die Anklage vorwarf, sie hätten durch Terroranschläge versucht, die Venezia Giulia Jugoslawien zu unterwerfen. Zwölf Slowenen erhielten Gefängnisstrafen im Ausmaß von 30 bis 5 Jahren. Später gab der Chef der faschistischen Geheimpolizei OVRA zu, daß die Polizei die eigentlichen Schuldigen an den Terroranschlägen nie gefunden habe; man habe, sagte er, eine Reihe von Irredentisten „a scopi intimidatorio” — zu Einschüchterungszwecken — verhaften und verurteilen müssen.

Im zweiten Prozeß erhielten sieben Slowenen aus Reifemberg (Görz) fünf bis ein Jahr Kerker, weil sie eine „irredentistische Gemeinschaft” gegründet und eine Tanne zerstört hatten, welche „der Verehrung durch die Öffentlichkeit gewidmet war”.

Und in Südtirol?

Es ist eine unbestreitbare Tatsache, daß Slowenen und Kroaten (allerdings im Verein mit den Kommunisten, zu denen auch die meisten austromarxistischen Führer der Sozialdemokratie von vor 1919 übergegangen waren) die Provinzen Triest, Görz, Pola und Fiume ständig in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand hielten; in Südtirol geschah nichts dergleichen. Dies hat sehr komplexe Gründe, von denen hier nur drei angedeutet werden sollen:

• Südtirol war, von kleinen italienischen Minoritäten abgesehen, ein kompakt tirolisch (also deutsch und ladinisch) besiedeltes Land, das den nationalen Kampf bis 1918 nicht im Innern, sondern nur nach außen — gegen das Trentino — gekannt hatte.

• Die Südtiroler waren stets Herren in ihrem Land gewesen; sie hatten keine „Straßenkampftradition”, an die sie im Kampf gegen den Faschismus hätten anknüpfen können.

• Ähnlich wie manche bürgerliche

Führer der Slowenen und Kroaten waren die führenden Südtiroler Politiker auf ein den neuen Zeiten und Bedingungen nicht mehr angemessenes Rechtsdenken eingeschworen. Das heißt: sie reklamierten ihr Recht; sie protestierten, wenn es beschnitten und verletzt wurde, aber sie hüteten sich, selbst das gegen sie arbeitende Recht zu verletzen. Dieser Respekt vor dem Recht wurde auch dem faschistischen Unrecht entgegengebracht.

Gewiß, auch die Südtiroler haben demonstriert; jeder wird von der großen Demonstration zur Einweihung des Andreas-Hofer-Denk- mals in Meran oder gegen die Eingliederung des Unterlandes in die Provinz Trient auf Kastelfeder wissen. Ein hochgestellter Italiener sprach davon in einem Bericht an Rom von „timidi dimostrazdoncine” — von schüchternen Demonstratiön- chen! Diese schüchternen Demonstratiönchen fanden zur gleichen Zeit statt, da Slowenen und Kroaten die Faschisten in ihren Dörfern mit Gewehrfeuer empfingen, da slawische und italienische — „internationalistische” — Arbeiter in der Venezia Giulia sich mit allen Waffen — vom Generalstreik bis zum Maschinengewehr — gegen die steigende Flut des faschistischen Terrors wehrten.

Man könnte nun ein wenden: Aber das ist doch gerade die Rechtfertigung für jene, die heute zur Gewalt greifen.

Es wäre in der Tat eine Rechtfertigung, wenn in Südtirol und Italien heute noch ein Gewaltregime bestünde, wie es der Faschismus war. Im politischen Ringen ist Gewalt die letzte Waffe, um zum Recht zu gelangen, so wie im sozialen Kampf der Generalstreik als die letzte Waffe gilt. Die Defensive, die das Recht verteidigende, das Recht suchende Gewalt wird nur durch die Gewalt legitimiert, die das Recht verletzt. Solange demokratische Methoden, solange Gerichte unbehindert in Anspruch genommen werden können, ist ein Widerstandsrecht für jedermann schlechthin ausgeschlossen, schreibt R. Marcic in seinem Buch „Vom Gesetzesstaat zum Richterstaat”.

(Wird fortgesetzt)

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