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Südtirol und wir

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„Daß das Maß der Drohungen und der Ueber- griffe bereits überläuft und daß gewisse rasende Stiere nicht nur des südtirolischen, sondern auch des wienerischen unflätigen deutschen Haufens aus ihren Ställen hervorgebrochen sind und mit ihren Hörnern aus ganzer Kraft um sich stoßen, ist bereits eine allgemein bekannte Tatsache, die in letzter Zeit durch politische Berichte erhärtet wurde, in denen stets die Wiener Regierung führt und schürt und so das Schwergewicht des Problems nicht mehr auf dem Boden unserer Innenpolitik beläßt, sondern auf die Außenpolitik verschiebt, so, als ob es sich um eine Streitfrage zwischen Staat und Staat handelte, in dem lebenswichtige Interessen angegriffen und bedroht erscheinen.“

Der burleske, farbenreiche, grotesk mit Schauermärchen arbeitende Aufsatz der römischen neofaschistischen Tageszeitung „II Secolo d’Italia“ fängt zwar nicht ganz den Stier bei den Hörnern, hält aber dennoch, in all seiner Verschrobenheit, ein Kernproblem fest: die italienischen Regierungen der Nachkriegszeit wollen, nach dem Abschluß des Abkommens De Gasperi- Gruber, 1946, Südtirol nur noch als ein innenpolitisches Problem ansehen.

Das Volk von Südtirol sieht sich seinerseits durch die mit der Industrialisierung und Bürokratisierung vorwärtsgetriebene Italianisierung seines Landes immer mehr in die Enge getrieben und sieht kaum noch einen Ausweg aus diesem Engpaß zwischen Brenner und der Salurner Klause als im Appell an Oesterreich und an internationale Organisationen.

Oesterreich weiß sich zweifach betroffen durch die Vorgänge in Südtirol in den letzten Wochen: als Volk und als Regierung.

Wenn wir richtig, sachgerecht reagieren und damit unseren Südtiroler Freunden wirklich helfen wollen, müssen wir einen Boden suchen, von de:n aus wir den Kreislauf der Reaktionen in Ita'ien beobachten, beurteilen und ihm selbst en:rinnen können.

Südtirol erfüllt heute eine inneritalienische Aufgabe, fast eine „Funktion“, von der die Südtiroler selbst oft kaum etwas wissen; und die auch in Oesterreich zuwenig beachtet wird.

In jedem neuzeitlichen Massenstaat staut sich eine geballte Masse von „Unbehagen". „Unbehagen an der Kultur“, in der Politik, in der Gesellschaft; die friedlichen Schweizer, die kein Südtirol-Problem kennen, kennen sehr wohl das Problem der „Malaise". Die tägliche Arbeit, die Ueberanstrengung, das Jagen nach Geld, aber auch nach dem Verdienst des täglichen Brotes, die Unsicherheit der Verhältnisse: Diktatoren erfinden da schnell, um die Ueberanstrengung der Massen abzulenken, äußere Feinde; etwa unter Hitler die Juden; etwa im Nahen Orient, der den Italienern nahegeht, die bösen Engländer, Franzosen, auch Italiener.

In Italien hat sich das Unbehagen früher, in den klassischen Zeiten, in Geheimbündeleien, nicht nur gegen den „Erbfeind“ Altösterreich, den obengenannter Artikel in jedem zweiten Satz an die Wand malt, und in politischen Radikalismen Ausdrucksformen erfunden.

Nun hat der politische Radikalismus in den letzten Jahren aus sehr verschiedÄien Gründen in Italien viel von seiner Faszinationskraft eingebüßt, nicht zuletzt dank der klugen Politik der Regierung in Rom unter Führung der Demo- cristiani.

Das Unbehagen bleibt und der Groll wächst. Die Bilder vom Streik der Hafenarbeiter in Triest mit den umgestürzten Polizeiwagen gingen durch die ganze Welt. Sie sind in engstem Zusammenhang mit Südtirol zu sehen.

Nur so nämlich läßt sich dieses Phänomen erklären: daß da, auf den ersten Blick grotesk, ein vitales, arbeitsintensives, erfindungsreiches Volk von 46 Millionen sich von 230.000 Bergbauern und Kleinbürgern „bedroht“ fühlt, und tausend Drähte, Hebel, Aktionen in Bewegung setzt, von Syrakus bis Bozen, um mobil zu machen gegen 3 5.000 Bauern, die auf Schloß Sigmundskron sich versammelt haben, um gegen die ständig fortschreitende Verschlechterung ihrer volkhaften Lebensbedingungen zu protestieren.

Selbst in dem bärbeißigen, von Schimpf-, Worten strotzenden Aufsatz des „Secolo d’Italia“ schwingt für den, der ihn aufmerksamer liest-, ein Grundton von Humor mit: etwas, was man natürlich nicht gern öffentlich und direkt sagt: Wie gut haben wir Italiener es, daß wir Südtirol haben: Südtirol als ein Land der Südtiroler — als ein Barometer der Stimmungen, als eine Stelle, wo wir Jahr für Jahr, in jeder politischen Situation, unsere Stauungen ablassen können. Dieser Erzfeind „kostet“ nicht viel, bringt viel ein. Die „Scherereien" machen sich wohl bezahlt: an diesem wohl zu behütenden „Zankapfel" einigen sich alle Italiener; hier haben wir die Stelle, an der wir, wenn unser Volk ermüdet ist von Mussolini, vom Schatz des Dongo, von römischen Gesellschaftsskandalen, und ermattet vom täglichen Streit ums Brot, uns abreagieren können. Jederzeit, um geringe Kosten. Denn Wien ist weit und offensichtlich harmlos, und die Tiroler, unsere Südtiroler, sind groteske Räubergendarmen, prächtig wilde, grausige Germanen, mit denen man jederzeit ein bißchen Propaganda des Schreckens machen kann.

Südtirol ist für- Italien ein innenpolitisches Problem in diesem ganz spezifischen Sinn: ein Schaubild und Schauerbild zur Regulierung der Stimmungen, zur Erhitzung und Entladung des permanenten Unbehagens.

Von diesem ihrem Hobby, das so ausgezeichnet und auf „billige“ Art eine ganze. Reihe von Funktionen erfüllt, ersetzt es doch den „Juden“, den „Bolschewiken“, alle „Erzfeinde“, Diversanten, alle Sündenböcke, die anderen Massen und Völkern mit großen Unkosten vorgestellt werden müssen, werden sich Volk und Regierung in Italien nicht so leicht trennen.

fDieser Situation gegenüber haben Volk und Regierung in Oesterreich höflich und entschieden festzustellen: Hier spielen wir nicht mit.

Südtirol ist für Italien ein „innerpolitisches“ Problem, es ist zugleich für Italien und Oesterreich ein Problem, das viele außen- und innenpolitische Bezüge hat; und ein Problem, das, wenn sich die römische Regierung weigert, auf Regierungsebene darüber zu verhandeln, auf anderen Ebenen zur Sprache gebracht werden muß.

Diplomatie auf neuen Wegen! In Washington, in London, überall in der freien Welt wird dieser Ruf heute erhoben, als eine dringende Notwendigkeit, um aus den Engpässen der Vergangenheit und Gegenwart herauszukommen.

Es ist Zeit, daß dieser Ruf auch in Oesterreich vernommen wird.

Im Falle Südtirol heißt das: Ueberall, wo in der Welt österreichische Vertretungen sind, und wo Oesterreich, offiziell und inoffiziell, wirtschaftlich, politisch und kulturell mitarbeitet, in 'internationalen Öffentlichen und privaten Organisationen, Kongressen, Veranstaltungen aller Art, ist Südtirol als ein fester, permanenter Punkt des Arbeitsprogramms aufzunehmen.

Hier wird, richtig verstanden, etwas durchaus Neues gefordert, das aber der konkreten Verflechtung der Wirklichkeit in Europa und darüber hinaus Rechnung trägt. Hier geht es nicht um eine Irredenta und nicht um eine militärische Invasion (Begriffe, die im „innenpolitischen“ Problem Südtirol für Meisterspieler auf dem italienischen Seelenklavier noch ihre Funktion erfüllen). Hier geht es um ein Land und ein Volk, an dem Italien und Oesterreich fundamental interessiert, beteiligt sind: als ..Geschäftspartner“, wenn man so will, genau so wie etwa in der Montanunion, deren Mitgliedstaaten an Stahl und Kohle ihrer Partner vital interessiert, engagiert sind.

Italien und Oesterreich sind in Südirol engagiert: Es liegt nun an Oesterreich, der Welt sein „Geschäftsinteresse“, sein Engagement, als eine selbstverständliche Ausdrucksform seiner Koordination und Kooperation in Europa und in der freien Welt klarzumachen.

Hier tut nicht nur eine neuartige Form politischer Aufklärung, zunächst im Westen, not (wie sehr hat die falsche Aufklärung über den „Völkerkerker“ Altösterreich uns allen geschadet — von Washington bis Budapest). Ein Grund mehr, heute von Wien aus neue Formen sachlicher politischer Aufklärung zu suchen und zu finden. Die Bürger Europas, dieses Europa, das fast hinter dem Rücken seiner Regierungen und über die „Reaktionen“ seiner nationalistischen Sprößlinge hinaus langsam, aber stets eine Wirklichkeit wird, haben ein Recht, zu erfahren, daß im schönen Südtirol zwei Partner engagiert sind: zwei Staaten; zwei Freunde, zwei Völker. Einander verbunden durch lateinischen Humanismus, römische Katholizität, christlichdemokratische Regierungsmänner, liberale und sozialistische Traditionen. Getrennt: durch eine ganze Reihe sachlicher, sachbezogener Gegensätze, die von Fall zu Fall auszuhandeln sind. Und worüber die freie Welt informiert werden muß: genau so, wie über die Negerkinder in der Schule von Little Rock, über die Behandlung der „Farbigen" in Südafrika, über jedes wichtige Problem politischer, gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und kultureller Kooperation.

Aus der Verpflichtung, in Europa mitzuarbeiten, ergibt sich für Volk und Regierung in Oesterreich zunächst immer wieder die Verpflichtung: sich nicht einfangen zu lassen in den Kreislauf der italienischen Reaktionen um Südtirol: das zwar nicht einfach eine Maus ist, mit der eine große Katze spielt, das aber eben tatsächlich, im innenpolitischen und innerseelischen Haushalt Italiens, Funktionen zuerteilt erhielt, mit denen wir uns nicht abfinden können.

Auf einem anderen Blatt, das zunächst nicht wir in Wien zu beschreiben haben, wohl aber unsere Freunde in Bozen, steht die Aufgabe, die. das Volk von Südtirol selbst lösen muß: um nämlich dem auf die Dauer verhängnisvollen, vergiftenden Kreislauf, das Hobby Italiens, seines politischen Unbehagens und seiner gesellschaftlichen Malaise zu sein, entrinnen zu können, wird Südtirol seinerseits in Italien, von Triest und Venedig bis Neapel und Syrakus, vom Val d’Aosta bis Sardinien eine politische und kulturelle Aufklärungsarbeit beginnen müssen, die den Völkern Italiens zeigt: Hier sind Menschen anderer Sprache, anderen Denkens, anderer Farbe ihrer leibseelischen Konstitution. Eben diese „schwatzhaften, wütenden, bärtigen und rundlichen Typen“ — womit wir kordial noch einmal dem „Secolo d’Italia“ eine Ehre erweisen wollen, die. ihm vielleicht nicht zukommt, sind Mitmenschen und Mitbürger: in der Föderation der freien Menschen, der freien Völker Europas.

Diese Aufklärungsarbeit, durch Veranstaltungen, Einladungen, gegenseitige Besuche usw., ist so lange fortzusetzen, bis sich in ganz Italien die Erkenntnis durchsetzt, daß sich das Secolo d’Italia, das Zeitalter Italiens, nur verwirklichen läßt als ein Zeitalter eines neuen Europa.

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