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Gewandeltes Südtirol

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Wer heute von der larchenbestandenen Höhe des Ritten auf die Stadt Bozen blickt, die er lange Jahre nicht gesehen, der wird angesichts der riesigen Ausweitung des verbauten Stadtgeländes erstaunt, wenn nicht erschrocken sein. Man hat diese Stadt anders in Erinnerung — als Zentrum dieses deutschsprachigen Gebietes, städtisch-regsam und durchaus nicht beengt, aber keineswegs als Industriestadt. Das aber ist sie heute, und damit sind auch schon alle Probleme umrissen, die hier wirksam sind. Und geht man dann etwa bloß über eine der modernen Talferbrücken, um in die ausschließlich von modernen Wohnhausblocks umsäumten Gassen einzubiegen: hier ist man weit in Italien und weder der Stil der Bauten noch das Aussehen oder die Sprache der Passanten könnten in einem der Industrievororte Mailands oder Bolognas anders sein. Deutlicher könnte man die grundlegende Umwälzung, die sich in Bozen im Verlaufe der letzten zwei Jahrzehnte vollzogen hat, nicht verspüren. Die Stadt, in der die Italiener im Jahre 1910 eine Minderheit von 5 Prozent darstellten, in der 1925 von rund 40.000 Einwohnern genau ein Viertel italienischen Volkstums war, hat heute eine Bevölkerung von mehr als 60.000 Einwohnern und davon sind rund 12.000 deutsch.

Jedes Straßenschild, jede amtliche Kundmachung, jede Preisliste, die meisten Schaufensterbeschriftungen sind zweisprachig. Den Südtirolern stehen ihre Schulen zur Verfügung, in denen deutsch unterrichtet wird und Italienisch als zweite Sprache gelernt werden muß. Vor Gericht, aber auch vor jedem anderen Amt hat die deutsche Sprache ebenso Gültigkeit wie die italienische. Das

Abkommen zwischen Österreich und Italien über Südtirol wird genau durchgeführt. Und doch sind den Südtirolern Sorgen verblieben, Vorschnelle Beurteiler schreiben immerhin Lobeshymnen über das hier Erreichte, dem Ideal nahekommende Maß des Erfüllbaren. Ihnen stehen die ewigen Kritiker gegenüber und die grundsätzlich Ablehnenden, die es auch gibt. Beide Gruppen sehen an den wahren Problemen und Tagesfragen vorbei, die rein realer Natur sind und daher keineswegs mit Ressentiments, politischer Färbung oder Nationalismus zu tun haben.

Bozen ist heute nicht mehr die Bezirksoder Provinzialhauptstadt eines von deutschsprachigen Bauern bewohnten Südtirols, sondern eine rasch angewachsene, immer noch in Entwicklung begriffene Industrie- und Handelsstadt mit vorwiegend italienischer Bevölkerung. Ihre ein paar Jahrzehnte hindurch unterbrochene Tradition als wichtiger Umschlagplatz und Messestadt ist wieder erweckt und wird von der deutschen Kaufmannschaft ebenso eifrig gehütet wie von der italienischen und von der Regierung in Rom stark gefördert. Das Land rundum ist tirolisches Bauernland wie eh und je. Die Bauern gingen mit der unseligen Umsiedelung kaum mit, wohl aber die vielen Unselbständigen, die Handwerker und Geschäftsleute, die Angestellten und die freien Berufe. Sie finden heute, wenn sie dank der Rücksiedlungsverträge wiederkehren, ihren Wirkungskreis eingeengt, von Zugewanderten übernommen, ihre Stellen nicht mehr vorhanden und stoßen, wenn sie öffentliche Bedienstete waren, auf eine zwar nicht offizielle, aber praktisch doch wirksame Ablehnung. Der Briefträger etwa, der wegging und heute wiederkommt, hat unter bestimmten Voraussetzungen sogar das Recht auf Wiedereinstellung, Aber das kann zum Beispiel in Süditalien sein und dort müßte er besser Italienisch können. Die Rückkehr der „Umgesiedelten“ ist denn das Hauptproblem Südtirols, und so rührend sich die Heimkehr der bisher freilich nur kleinen Gruppen gestaltet, so schwer ist die praktische Hilfeleistung für die Zurückkommenden, die ja nicht nur politisch überprüft werden, sondern auch nachweisen müssen, daß sie eine Wohnung, ein Einkommen und Bürgen haben!

Der Besonderheit des Gebietes, vor allem der Zweisprachigkeit, dem Recht auf die deutsche Schule und all den anderen Forderungen der 1919 völlig gegen den Willen des allergrößten Teiles der Einwohner von Österreich getrennten Volksgruppe sollte die der Provinz Bozen gewährte Autonomie am besten Rechnung tragen. Eine solche Autonomie gewährt Italien nur noch den Bewohnern Hochsavoyens (Aostatal) und der Insel Sardinien. Doch hat man die Autonomie für „Südtirol“, das als solches für Italien nicht existiert, auf die südliche Nachhirprovinz Trient ausgedehnt. Bis 1927 war das Gebiet von Bozen mit Überetsch und dem Pustertal ein Bestandteil der Provinz Trient gewesen, dann erst hatte man die „Provinz Bozen“ geschaffen. Durch die Ausdehnung der Autonomie auf das Tren- tino, das als früheres „Welschtirol“ stets eine italienische Bevölkerungsmehrheit besaß, wurde natürlich eine deutsche Mehrheit in der Regierung des autonomen Gebietes verhindert. Eine Tatsache, mit der man sich h'er.nicht leicht abfindet.

Die ertrinkenden Dörfer

Wer, vom Oberinntal kommend, auf dem breiten Sattel des Reschenpasses die Grenze überschreitet, um nun ins Vintschgau hinab zusteigen, sient sich aut der kargen Hochfläche, wo die junge Etsch zwei kleine Seen bildete, plötzlich einem großen Staubecken gegenüber, aus dem, zum Teil schon halb versunken, noch Bauernhöfe und Wirtschaftsgebäude herausragen: hier füllt sich der riesige Stausee für die großen Monte- catini-Kraftwerke, die schon seinerzeit Mussolini im Rahmen seines Autarkieprogramms bauen wollte und die nun, trotz aller Versuche, die zwei Dörfer Reschen und G r a u n zu retten, Wirklichkeit werden. Die reichen Wasserkräfte des Landes sind für Italien unerhört wichtig, da es ohnehin ständig unter katastrophalem Strommangel leidet und auch jetzt noch Stromsperrtage und einschneidende Sparmaßnahmen durchführen muß. Nur hier in Südtirol, am Südhang der gletscherbedeckten Zentralalpen, verfügt es über genügend wasserreiche und auch im Sommer nicht versiegende Flüsse, und so ziehen denn aus jedem kleinen Bergtal die blinkenden Drähte der Hochspannungsleitungen hinaus und spannt sich ein ganzes, dichtes Netz solcher stromführenden Kraftwege über das Becken von Bozen. Der Hinweis auf die von Italien schon bisher aufgebauten Wasserkraftwerke und die noch geplanten Werke war ja auch der entscheidende Punkt der wirtschaftlichen Einwände gegen eine Rückgliederung Südtirols an Österreich.

Die breiten Gerinne der Flüsse sind denn auch fast alle trocken oder nur von schmalen Rinnsalen durchzogen — das gilt ebenso für die Eisack im Haupttal wie für die Talfer im Weichbild Bozens, aber auch für die vielen anderen Bergwässer, die sonst mächtig talaus rauschten, heute aber, in Felsrohre und Druckstollen eingefangen, weithin abgeleitet und in Speicherseen aufgestaut sind. Weit hinten im Schnalsertal, an der Südseite des ötztales, wo der uralte Übergang von Vent über den Similaungletscher und das Niederjoch nach Unserfrau führt, ist ein neues, riesiges Kraftwerk im Entstehen begriffen, ein großes Werk soll die Ahr, einen Zufluß des Pustertales, zur Stromerzeugung einfangen, und im Tale von Rain, oberhalb von Täufers, wird ein Stausee projektiert, der weite Wiesengründe und viele Bauernhöfe in seinen Fluten begraben soll. Ausgedehnte Kraftwerke, Umspannstationen und Industrieanlagen werden im Gefolge dieser intensiven Nutzung der Wasserkräfte überall errichtet. So wird das Landschaftsbild nicht unwesentlich verändert.

Doch es ist nicht die Landschaft allein, die sich' ändert, auch das Dorf ändert sich — äußerlich und innerlich. Und hier sind wir an der Wurzel aller Probleme der Südtiroler. Entscheidend, weil davon das Weiterbestehen oder Auslöschen der Volksgruppe überhaupt abhängt, ist die Behauptung des Dorfes. Nahezu überall ist es rein deutschsprachig. Doch schon fehlen vielfach die deutschsprachigen Lehrer. Die gut bezahlte Industriearbeit lockt die jungen Leute in die Städte. Der Komfort des dortigen Lebens, der, wenn auch falsche Glanz des städtischen Getriebes entfremdet sie dem Landleben. Die großen Baustellen, die neuen Kraftwerke, die Dörfer, die geräumt werden müssen, der Fremdenverkehr mit allem, was dazugehört — all das bedroht das Südtiroler Dorf.

Nach zehn Jahren hatte Südtirol heuer eine erste, sehr gute Fremdensaison. Die paar

Wochen der Hauptsaison — der Italiener geht, nur im Juli und August auf Urlaub, er kennt keine Vor- und Nachsaison — waren in den Dolomitenorten sogar überfüllt. Seilbahnen und Sessellifts — diese modernsite Errungenschaft in jeder Länge und erstaunlicher Vielfalt — wurden und werden allerorts errichtet, auch die kleinsten Dölö-mitendörfer machen im Schmucke modernster Portale, neonbeleuchteter' „Bars“ und vieler Neubauten einen ungewöhnlichen Eindruck.

Die Sorgen sind hier vielfach ganz anders gelagert als nördlich des Brenners. Gegen sie steht die Vitalität dieser Menschen. Die optimistische Betriebsamkeit der Italiener und ihre erstaunliche Schaffensfreude, die überall im Lande durch den hohen Grad des Wiederaufbaues sichtbar wird, wirkt, hier auch befruchtend und anfeuernd auf die alteingesessene Bevölkerung, die es ihrer Treue und Standfestigkeit in allen Epochen und Zeitläuften verdankt, daß sie dieses schöne Land nie verlor!

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