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Südtiroler Sorgen

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Die Ankündigung der italienischen Regierung, einen Betrag von 2,5 Milliarden Lire für die Errichtung eines neuen Stadtteiles in Bozen zur Verfügung zu stellen, müßte im Grunde alle Einwohner Bozens freuen — auch die deutschsprachigen; wenn die letzteren nicht berechtigte Besorgnis um die Art der Verteilung des Betrages hätten.

Die sonst um Objektivität bemühte Zeitung „Der Standpunkt“ hat nun in ihrer Ausgabe vom 26. Oktober 1957 versucht, die Erregung der Südtiroler Bevölkerung abzudämmen; sie meint dazu, daß nicht nur Bozen einen so namhaften Betrag zu Bauzwecken erhalten habe, sondern auch Genua: 6 Milliarden, Livorno: 2,5 Milliarden, Pescara: 2 Milliarden, Potenza: 2 Milliarden, Cagliari: 2 Milliarden und Sassari: 1 Milliarde. Auf Bozen entfalle somit nur der zehnte Teil der Gesamtsumme von insgesamt 25 Milliarden. Die Dotation sei übrigens um so verständlicher, als ja beim ersten Wohnbauprogramm der italienischen Regierung die Stadt Bozen seinerzeit leer ausging.

Das klingt plausibel. In der Tat wäre der Vorteil für Bozen handgreiflich — wenn dieses neue Stadtviertel nicht ein solcher „neuer Stadtteil“ wie der jenseits der Talfer würde (das berüchtigte „Schanghaiviertel“ wird fast ausschließlich von italienischen Kommunisten bewohnt), sondern auch die deutsche Bevölkerung mitberücksichtigte.

Wird das der Fall sein? Die Zahlen der letzten Jahre sprechen anders. Im Jahre 18 80 beherbergte Bozen 9106 Deutsche und 1142 Italiener, während im Jahre 1957 in Bozen nur noch 18.000 Deutsche und 64.000 Italiener wohnen, wobei die italienische Statistik die Anzahl der in Bozen ansässigen Ladiner noch zu den Italienern rechnet. Die Zahl der deutschen Einwohner Bozens verringerte sich von 96 Prozent im Jahre 1918 auf 22 Prozent im Jahre 1957! Im Jahre 1939 waren es noch 42.000 Deutsche. Die Zahl der Italiener und Ladiner stieg im Jahre 1939 auf 22.000, im Jahre 1951 auf 54.000 und im Jahre 1957 auf 64.000.

Und die Wohnungsverteilung? In den bisher staatlich finanzierten 3614 Volkswohnhäusern wurden ganze 216 Wohnungen an Deutsche vergeben, also kaum mehr, als eben noch zu einem „Alibi“ reicht. Und da hat die italienische Presse noch den Mut, gegen die Besorgnisse der Südtiroler loszuziehen!

Die eigentümliche Entwicklung der Stadt Bozen geht immer noch letzten Endes darauf 'zurück, daß in der Stadt fast ausschließlich italienische Arbeiter hausen, während die Bauern aus der Stadt verbannt sind. Die Praxis der italienischen Arbeitsämter ist zu bekannt, als daß man darüber viele Worte verlieren sollte. Leider existieren keine Statistiken über die Ansuchen deutschsprachiger Arbeiter und über ihre Placierung auf den Südtiroler Arbeitsmärkten.

Die Erregung der Südtiroler Bevölkerung ist also erklärlich. Die Zeitung „Der Standpunkt“ hat ganz recht, wenn sie schreibt, daß der entscheidende Punkt allein die Art der Verteilung dieser neuen Wohnungen sein werde. Hier sei auch der Ansatzpunkt für die Südtiroler Volkspartei, „die als politische Vertretung der Volksgruppe auf die angemessene und billige Berücksichtigung der wohnungsuchenden Südtiroler zu dringen hat".

Man kann der Südtiroler Volkspartei wahrhaftig nicht vorwirfen, daß sie nicht immer und überall ihre Stimme für die angemessene und berechtigte Forderung der Südtiroler Wohnungsuchenden erhoben hätte. Leider fand ihre Stimme bei den kompetenten Stellen der Regierung, sowohl in Trient als auch in Bozen, taube Ohren. Ob es diesmal anders sein wird?

Der Südtiroler Abgeordnete Dr. Tony Ebner hat mit Recht in der Sitzung des Europarates in Straßburg am 29. Oktober 1957 in seiner großangelegten Rede darauf hingewiesen, daß man im Zuge der Europäisierung ein Volksgruppenrecht schaffen müsse, das nicht nur den einzelnen Staatsbürger, sondern die Volksgruppe als solche schütze. Auf vielen Gebieten, Verteidigungspolitik, Wirtschaftspolitik usw., sei die Europäisierung weit vorgeschritten. Auch die Frage der nationalen Minderheiten gehöre zu dem großen europäischen Fragenkomplex und könne nur von allen bindend gelöst werden. Es müsse möglich sein, Grundsätze mit europäischer Gültigkeit herzustellen, zum Schutze und zur Erhaltung des ethnischen Charakters der einzelnen Volksgruppen auf ihren angestammten Plätzen. Man könne also, wenn man europäisch denken will, die Minderheitenfrage nicht als eine innenpolitische Frage eines einzelnen Staates an- sehen, wie Italien dies immer bis jetzt getan habe, sondern man müsse darüber hinaus auf europäischer Grundlage den Minderheitenschutz auf gesetzliche Grundlagen stellen.

Loyal sei anerkannt, daß gerade in der letzten Zeit die Regionalregierung durch die Vorlage dreier wichtiger Gesetze von Hochwasserschäden und Frühjahrsfrösten sowie durch Maßnahmen zugunsten frostgeschädigter landwirtschaftlicher Betriebe auch der deutschen Bevölkerung zu helfen bemüht ist. Die Verluste sind besonders schwer im Etschtal. ln 15 Gemeinden der Provinz Bozen übersteigen diese Verluste 50 Prozent der gesamten Ernte. Die Hilfeleistung steht im Haushaltsplan für 1958 mit einer Summe von 150 Millionen Lire zu Buch, und zwar soll die Region einen Teil der Zinsen, die die Landwirte an Kreditinstitute schulden, zur Zahlung übernehmen. Die Hilfe soll in keinem Fall mehr als 6 Prozent der Darlehens summe ausmachen; mindestens 1/4 Prozent müssen von den Schuldnern aufgebracht werden. Ein weiteres Projekt, das der Assessor für Land- und Forstwirtschaft vorlegt, soll der Sanierung von 5000 Hektar geschädigten Obstund Weingeländes dienen. Schätzungsweise haben die rund 5000 Hektar Obst- und Weingärten durch den Frühjahrsfrost einen Schaden von rund 15,5 Milliarden Lire erlitten. Nun will man. durch Beregnungsanlagen und Lufterwärmung durch Naphthaöfen der Katastrophe begegnen. Im Voranschlag ist dafür ein Betrag von 1,200.000 Lire eingesetzt.

Man sieht: auf wirtschaftlichem Gebiet ist friedliche Zusammenarbeit möglich. Warum nicht auch auf politischem? Vielleicht bringt die Einladung des Abgeordneten Dr. Tony Ebner an den Europarat, Südtirol zu besuchen und dort selbst die Verhältnisse zu studieren, Aenderung. Der Antrag Dr. Ebners auf Behandlung der Minderheitenfrage wurde zwar durch einen Antrag des italienischen Abgeordneten auf Vertagung zu blockieren versucht. Der Antrag des Italieners wurde aber abgelehnt, so daß man hoffen kann, daß der Europarat in Straßburg auch zur rechten Zeit auf das Problem der Minderheitenbehandlung zu sprechen kommt.

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