Dieser FURCHE-Text wurde automatisiert gescannt und aufbereitet. Der Inhalt ist von uns digital noch nicht redigiert. Verzeihen Sie etwaige Fehler - wir arbeiten daran.
Stoßlinien…
Im Jahre 1910 gab es italienische Minderheiten in Südtirol nur im Etschtal und auch dort nur in einigen Gemeinden. In allen damaligen 250 Gemeinden Südtirols (inzwischen wurden diese durch Eingemeindungen in 109 Gemeinden zusammengefaßt) gab es praktisch überhaupt keine Italiener und die Stadt Bozen, die heute eine bedeutende italienische Mehrheit aufweist, besaß damals lediglich 6% italienische Bevölkerung.
Die Volkszählung 1921 hat die Wandlung der Bevölkerung eingeleitet, und zwar in erster Linie durch die Einführung des i.-'iie- nischen Militärs und die Besetžung der Beamtenstellen durch Italiener. Waren es im Jahre 1910 weniger als 6% der Gemeinden, die italienische Minderheiten aufwiesen, so sind 1921 nicht mehr 100, sondern nur mehr 87 Gemeinden mit italienischer Bevölkerung unter 10% und die Zahl der Gemeinden mit italienischer Mehrheit ist bereits von 2 auf 5 gestiegen. Schon damals, also vor 33 Jahren,
konnte man die Stoßlinien der italienischen Einwanderung deutlich ersehen: einerseits das Etschtal von Meran bis Salurn, wo unter anderem Leifers, Neumarkt und Salurn italienische Majorität aufweisen und neue italienische Minderheitsgruppen geschlossen auftreten. Eine zweite Stoßlinie ist die Brennerlinie längs des Eisack, wo hauptsächlich italienische Eisenbahner, Zoll- und Finanzbehörden bedeutende Minderheitsgruppen ins Leben riefen, ebenso wie in den Grenzgemeinden Toblach und Innichen gegen Osttirol zu. Die letzte Volkszählung vor der Umsiedlung im Jahre 1939 zeigt die Verstärkung dieser Stoßkeile noch von einer dritten Seite, nämlich durch das Passeiertal auf der Linie Franzensfeste—Innichen. Immerhin sind aber auch 1939 noch 87 Südtiroler Gemeinden mit weniger als 10% Italienern.
Gewaltig wandelt sich das Bild natürlich mit der Volksabstimmung und Abwanderung. Genaue Statistiken sind nicht zu erreichen. Man kann nur ungefähre Schätzungen auf Grund von allgemeinen Zählungen errechnen. In Meran sind zum Beispiel über 71 % der deutschen Bevölkerung abgewandert, in Bozen 48%, in Bruneck 41% und in Brixen 34%, woraus sich ergibt, daß die städtische Bevölkerung einen überragenden Anteil an der Abwanderung hatte. Von der ländlichen Bevölkerung sind die Weinbaugebiete sehr in Mitleidenschaft gezogen worden, so sind in Algund bei Meran über 42%, in Auer.35% und in Salurn fast 50% der deutschen Bevölkerung abgewandert. Eine genaue Statistik der Optionsergebnisse vom Jahre 1939 liegt nicht vor.
Eine Erklärung, die seinerzeit vom italienischen Präfekten in Bozen und vom deutschen Generalkonsul unterfertigt war, beinhaltet lediglich, daß 170.000 Südtiroler für Deutschland und rund 80.000 für Italien optiert hatten. Wenn diese Zahlen später von nationalsozialistischer Seite als unrichtig bezeichnet wurden, so nur deshalb, weil die NSDAP die politische Niederlage der Italiener verschleiern bzw. verkleinern wollte.
Folgende Zahlen kommen den tatsächlichen Ergebnissen am nächsten: Optionsberechtigte Deutsche und Italiener waren insgesamt 247.000. Davon waren Optanten für Italien nur 3 4.0 0 0, dagegen für das Deutsche Reich 2 1 3.0 0 0. Von diesen 213.000 Optanten sind insgesamt abgewandert und nicht mehr nach Südtirol zurückgekehrt: 55.000; ab-gewandert und nieder zurückgekebft 15.000; nicht abgewandert, sondern in Südtirol verblieben sind 143.000.
Im Herbst des Jahre 1952 gab das Präsidialamt des italienischen Ministerrates, Grenzzonenamt, im sogenannten Grünbuch (Erklärungen zur Verwirklichung des österreichisch-italienischen Abkommens vom 5. September 1946) folgende Zahlen bezüglich der Optanten bekannt: Nicht abgewanderte, eingebürgerte Optanten: Insgesamt wurden 21.330 Gesuche um Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft eingebracht, wovon 20-732 Gesuche mit einer Personenzahl von 40.615 positiv und 571 Gesuche mit einer Personenzahl von 655 pegativ entschieden wurden. Abgewanderte, • eingebürgerte Optanten: 28.593 Gesuche wurden eingereicht, hiervon wurden positiv, also für Italien, 21.200 Gesuche mit einer Personenzahl von 43.276 und negativ 1012 Gesuche mit einer Personenzahl von 2446 entschieden. Endlich wurden von den nįdit abgewanderten und nicht eingebürgerten Optanten durch einfachen Optionswiderruf zirka 115.000 wieder italienische Staatsbürger. Nimmt man nun die Zahl der poch immer unentschiedenen 6381 Gesuche mit 13.00Q Personen an, so errechnet sich auf diese Weise wieder eine insgesamte Optantenzahl von 213.000.
, In einem Abkommen vom März 1950 Zwischen Oesterreich und Italien über die Rückoption der Südtiroler hat Oesterreich sich verpflichtet, 25% der Rückoptanten die Österreichische Staatsbürgerschaft zu verleihen, dgs entspricht ungefähr 5600 Gesuchen, wovon Oesterreich bisher rund 3500 durch Einbürgerung positiv erledigt hat, Italien hat nach dem Uebereinkommen 15.166 Gesuche positiv zu erledigen, wovon bis jetzt lediglich 9400 Gesuche erledigt sind, während 5766 Gesuche von in Oesterreich lebenden Rückoptanten von der italienischen Regierung noch zu erledigen sind.
Die Volkszählung vom Jahre 19 5 1 weist eine weitere rückläufige Bewegung auf. 66 der 107 Gemeinden Südtirols haben eine absolut absteigende Bewegung, 19 weitere bleiben mit einem Zuwachs von weniger als 5% weit unter dem Zuwachs, der trotz dem Krieg, aber ohne Auswanderung zu erwarten gewesen wäre. Da die Volkszählung vom Jahre 1951 ąus begreiflichen Gründen keinen Unterschied in der Nationa» Jität gemacht hat, können lediglich aus den ’Zahlen der ‘Wahlergebnisse Rückschlüsse ge-, zogen werden.
Die Wahl vom 16. November 1 95 2 ergab bei einer Wahlbeteiligung von 88,14% 113.216 deutsche Stimmen oder 64,8% und 60.663 italienische Stimmen oder 35,2%. 70% aller italienischen Stimmen, nämlich 42.481, wurden in den vier Südtiroler Städten Bozen, Brixen, Meran und Bruneck abgegeben. Auf dem Ląndę macht der Stimmenanteil der Italiener immerhin bereits
19,4% aller Stimmen aus.
Aber schon die Wahl vom 7, J u n i 1 9 5 3 zur italienischen Kammer weist eine weitere Verschiebung zu ungunsten der deutschen Bevölkerung auf, und zwar wurden abgegeben für die Südtiroler Volkspartei 118.412 Stimmen oder 59,94% gegen 64,8% Stimmen im Jahre 1952 und die italienischen Parteien erhielten insgesamt 79.123 Stimmen oder 40,06% gegen 35,2% im Jahre 1952, Die Vermehrung der italienischen Stimmen um rund 18.500 ist in erster Linie auf den größeren Kreis der nicht bodenständigen Bevölkerung (Militär, Eisenbahner, Beamte und Angestellte) zurückzuführen. So haben in Meran allein 4800 italienische Soldaten abgestimmt, natürlich für die italienischen Parteien.
. Diese Italienisierungsbestrebungen halten an. Der Staatssekretär ,im Ministerialpräsi- dium hat am 17. Juli 1952 den Südtiroler Abgeordneten schriftlich mitgeteilt, daß der Gebrauch der deutschen Sprache im inneren Amtsverkehr in Südtirol verboten ist. Deutsche Aemter, wie Schulinspektor und Schulleiter, Landeshauptmann und Bürgermeister, müssen in italienischer Sprache verfcehren, ob sie diese nun beherrschen oder nicht, obwohl im Abkommen vom 6. September J 94 6 die Doppelsprachigkeit gewährleistet wurde und dieses Abkommen einen Teil des italienischen Friedensvertrages bildet. Seit dem Sommer 1952 muß der innere Amtsverkehr in italienischer Sprache geführt werden und darüber hinaus vertreten die italienischen Behörden entschieden die Ansicht, daß jedes Amt wohl die Möglichkeit haben solle, in deutscher Sprache Auskunft zu geben, daß aber die Beamten nicht beide Sprachen beherrschen müssen. Im Herbst 1953 sind nach wie vor 95% der staatlicher! Stellen in der Provinz Bozen von Italienern besetzt. Rund 4000 italienische Beamte und Angestellte (abgesehen von Militär und Polizei) sind heute in Südtirol tätig. Aehnlich sind die Verhältnisse in der Regionalverwaltung, wo 137 Italiener und nur 23 Südtiroler beschäftigt sind.
Im Jahre 1953 fand für die Provinz Bozen eine Ausschreibung von Richterstellen statt, um die sich fünf Südtiroler und rund tausend italienische Richter bewarben. Daß keiner der Südtiroler Richter angestellt wurde, kann wohl als selbstverständlich angesehen werden, ja, es sind von vier Südtiroler Richtern, die im Zuge der Revision der Optanten wieder in Südtirol in ihr Amt eingesetzt worden waren, im Sommer 1953 zwei schon wieder nach Altitalien versetzt worden.
Leider trifft diese Benachteiligung der Deutschen auch die Kriegsversehrten. Am 23. März 1952 wurde ein italienisches Gesetz über die den Heimkehrern zu gewährenden Begünstigungen (bevorzugte Arbeitsvermittlung, Wohnungsgebung usw.) erlassen. In diesem Gesetz ist ausdrücklich festgelegt, daß diese Begünstigungen auf Südtiroler, die in der deutschen Wehrmacht gedient haben, keine Anwendung finden darf, ja, es wurde der Südtiroler Landesregierung vom Obersten Rechnungshof in Rom sogar untersagt, den Kriegsversehrten vorschußweise Renten zu gewähren; von dieser Härte werden 3000 Südtiroler betroffen.
Die Feststellung dieser Tatsachen ist notwendig im Interesse einer objektiven Behandlung der Südtiroler Frage.
Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.
In Kürze startet hier der FURCHE-Navigator.
Steigen Sie ein in die Diskurse der Vergangenheit und entdecken Sie das Wesentliche für die Gegenwart. Zu jedem Artikel finden Sie weitere Beiträge, die den Blickwinkel inhaltlich erweitern und historisch vertiefen. Dafür digitalisieren wir die FURCHE zurück bis zum Gründungsjahr 1945 - wir beginnen mit dem gesamten Content der letzten 20 Jahre Entdecken Sie hier in Kürze Texte von FURCHE-Autorinnen und -Autoren wie Friedrich Heer, Thomas Bernhard, Hilde Spiel, Kardinal König, Hubert Feichtlbauer, Elfriede Jelinek oder Josef Hader!