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Südtirol — einmal anders gesehen

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Wer als unpolitischer Mann von der Straße die scharfe Diskussion über das Problem Südtirol verfolgen und sich dann daraus ein Bild darüber formen will, was dort eigentlich geschieht, kommt bald in Verlegenheit.

Hüben erzählt man ihm, die Italiener seien ein chauvinistisches Volk, das sein Sinnen und Trachten in Südtirol auf die Vernichtung der dort bodenständigen deutschen Kultur ausgerichtet habe, drüben wird behauptet, die Südtiroler seien subversive Elemente, die mit der Technik des Irredentismus auf die Losreißung dieser italienischen Provinz aus dem italienischen Staatsverband hinarbeiten.

Da der Mann von der Straße aber heutzutage gerne reist und sowohl Italien als auch Südtirol einmal aus der Nähe gesehen hat, hegt er das unbestimmte Gefühl, daß an den Schilderungen von hüben und drüben etwas nicht stimmt. Er sucht hinter den Paragraphen der Staatsverträge, Regierungsverordnungen und Gemeindeordnungen allgemein menschliche Grundsätze, über die er sich zunächst ein Urteil bilden möchte.

Er wird aber dann in der Regel recht enttäuscht sein bei der Feststellung, daß man weder auf der einen noch auf der anderen Seite die Menschen, auf die es letzten Endes ankommt, wirklich kennt

Wer lange im Ausland gelebt hat, weiß, daß man nur dann über ein Volk wirklich urteilen kann, wenn man in seiner Mitte gearbeitet und alle seine Leiden und Freuden, vor allem seine Leiden, redlich geteilt hat. Dazu genügen nicht Ferien- oder Studienreisen; sondern man muß mitten drin den Kampf um das tägliche Brot mitgemacht haben.

Ich habe viele Jahre in verantwortlicher Stellung in Italien zugebracht, bin während der furchtbaren Bombardements von Mailand zusammen mit den Italienern im Keller gesessen, habe zwei Revolutionen und Umstürze in Italien mitgemacht und das Verhalten des Volkes dabei feststellen können. Ich glaube also in der Lage zu sein, über die Einstellung des italienischen Volkscharakters auch gegenüber allem, was österreichisch ist, urteilen zu können, und bin der Ansicht, daß dieser Punkt bei der Diskussion über Südtirol nicht übersehen werden kann. Dazu möchte ich mir erlauben, im folgenden einige selbst erlebte Beispiele zu bringen.

Da gab es nun Augenblicke, wo wir Oesterreicher in Italien ohne Paß, ohne Verbindung mit der Heimat, vielfach ohne Geld, in einem Lande dastanden, das selbst von den schwersten Erschütterungen bebte und dessen Zukunft noch im Dunkeln lag. Ohne eine gesetzliche Vertretung mußten damals die Oesterreicher in Italien ihren schweren Weg allein gehen, In diesen Tagen, als in Mailand praktisch lediglich die Partisanenverbände regierten und täglich eine nicht unbedeutende Anzahl von Anhängern des faschistischen Regimes liquidiert wurde, ist meines Wissens keinem einzigen Oesterreicher auch nur ein Haar gekrümmt worden. Es strömten aber damals die verschiedensten Elemente in Mailand zusammen. Außer den in Italien ansässigen Oesterreichern waren es österreichische Wehrmachtsangehörige, österre'ichische Angestellte von deutschen Dienststellen, sonstige Versprengte, darunter ein sehr berühmter österreichischer Dirigent, alle ohne österreichische Ausweispapiere, ohne Geld, Verpflegung und Unterkunft.

Die erste große Konzession, die uns damals die Italiener machten, war die Bewilligung, jenen Landsleuten, die irgendwie ihre Staatsbürgerschaft nachweisen konnten, einen provisorischen österreichischen Ausweis auszustellen, was durch ein ad hoc gebildetes Komitee besorgt wurde. Was in solchen Zeiten der Besitz dieses Ausweises bedeutete, kann nur der ermessen, der in einer derartigen Situation war.

Daß man uns ein modernes Schulgebäude mit Decken, Essen usw. zur Verfügung stellte, sei nur nebenbei erwähnt.

Es muß aber einmal auch darüber gesprochen werden, wie sich die Italiener dem österreichischen Eigentum gegenüber verhielten, das in Italien recht hoch zu bewerten ist. Als deutscher Besitz war es nach italienischem Recht zu beschlagnahmen und dann zu veräußern. Nach den Vereinbarungen, die ich selbst mit den italienischen Stellen darüber traf, wurden von Anfang an zwar alle österreichischen Firmen in Italien auf die Liste der deutschen Firmen gesetzt, jedoch mit einem kleinen Beisatz (Austria) versehen. Alle diese Firmen wurden lediglich einer harmlosen und zahmen Geschäftsaufsieht unterworfen, die zu einer Zeit von den Italienern wieder aufgehoben wurde, als das österreichische Eigentum in den meisten anderen Staaten noch voll beschlagnahmt war. Es fehlte auch in Italien gewiß nicht an Hyänen, die sich gerne die fetten Bissen aus dem österreichischen Besitz angeeignet hätten; die maßgebenden italienischen Stellen aber leisteten allen diesen Bestrebungen einen erfolgreichen, zähen Widerstand und erklärten uns immer wieder, sie sähen jetzt in uns Oesterreichern ihre Brüder, die sie gegen alles Unrecht verteidigen würden.

Was hat nun aber all dies mit Südtirol zu tun?

Ich halte es zunächst für richtig, gewisse Dinge, die in der österreichischen Oeffentlich-keit niemals auch nur erwähnt wurden, einmal in Erinnerung zu bringen und offen auszusprechen. Weiter aber erhebt sich natürlich dann die Frage: Wie ist es möglich, daß ein Volk, das in schwersten Zeiten der Prüfung sich voll hoher Menschlichkeit und Brüderlichkeit uns gegenüber bewährt hat, heute angesichts eines Problems, das sicherlich keine vitalen italienischen Interessen Oesterreich gegenüber berührt, eine so abweisende Haltung einnimmt?

Dies ist vor allem einem Oesterreicher nicht verständlich, der die Achtung vor einer fremden Nationalität inmitten des eigenen Staatsverbandes sozusagen mit der Muttermilch eingesogen hat. Auch in dem heutigen Oesterreicher ist die Achtung, ja die Liebe zu der Eigenart einer fremden Nation innerhalb der eigenen Staatsgrenzen wachgeblieben.

Anders ist dies in Italien. Vielleicht sind nur die Staaten mit alter Tradition, gereift durch Leid und Glanz geschichtlicher Ereignisse imstande, einen Staatsbegriff zu prägen, der über den Eigentümlichkeiten der Nation schwebend, dem Staat Leben und Inhalt gibt.

Das heutige Italien ist ein verhältnismäßig junger Staat, eine Zusammenfassung ursprünglich heterogener Staats- und Gemeinwesen, deren Amalgierung in einen einheitlichen Staat eigener Prägung nur unvollkommen gelungen ist. Vieles, was bei einer Betrachtung des politischen Lebens in Italien unverständlich erscheint, ist darauf zurückzuführen. Neben modernen Industriezusammenballungen gigantischen Ausmaßes, stehen Agrarverfassungen feudalpatriarchalischen Gepräges wie erratische Blöcke grauer Vorzeit, hausen Handwerker in Löchern, in die das ganze Jahr kein Licht dringt und verrichten ihre Arbeiten nach den Methoden vergangener Jahrhunderte.

Das Ganze wird zusammengehalten durch eine Bürokratie, die sich in dem Gewirr radikalpolitischer Strömungen, rücksichtsloser Interessenkämpfe und patriarchalischer Einrichtungen nicht anders zu helfen weiß, als sich an formale Grundsätze zu klammern, die dann dem vielgestaltigen Leben der italienischen Wirklichkeit häufig nicht gerecht werden können.

In dieses eigenartige Staatsgebilde hat man nun Südtirol hineingestellt, das seit Jahrhunderten an eine ausgezeichnet funktionierende Verwaltung, den Eigentümlichkeiten des kulturellen Lebens angepaßt, gewöhnt war und die neuen Verwaltungsgrundsätze und ihre Durchführung als fremdartig und unzweckmäßig ablehnte.

Allerdings stehen die Südtiroler mit dieser Ablehnung, die der Zwangssituation der italienischen Bürokratie — menschlich gesehen — nicht gerecht wird, nicht allein. Sie teilen sie mit weiten Kreisen, vor allem der Wirtschaft Oberitaliens.

Wem die Kritik an der italienischen Verwaltung, wie sie in den Bozener Weinstuben laut wird, nicht paßt, der höre sich doch an, was man darüber in den Direktionsbüros der Mailänder und Turiner Aktiengesellschaften sagt; die Schärfe dieser Kritik steht jener in Südtirol in keiner Weise nach.

Italien ist ein junger Staat. Als solcher wacht er aber auch voll Eifer auf seine Nationalität, und da begegnen wir wieder einer für uns etwas fremdartigen Vorstellung.

Wer einen italienischen Paß hat, ist nach italienischen Nationalitätsvorstellungen ein Italiener, auch wenn er kein Wort italienisch spricht. Der Begriff Staat und Nation fallen in Italien zusammen und es ist oft schwierig, auch einem gebildeten Italiener diesen Unterschied begreiflich zu machen. Wenn durch geschichtliche Ereignisse fremde Nationen in den Bereich des italienischen Staates fallen, gibt es nur ein Mittel der Eingliederung, nämlich die Assimilation, also gerade die Lösung, die dem Südtiroler unannehmbar erscheint.

Im Zusammenhang mit Südtirol wird auch viel von der Bedeutung der Brennergrenze und der Notwendigkeit ihrer Verteidigung gesprochen. Nun ist eine Grenze immer nur soviel wert, als man ihr eben an Bedeutung beimißt, die je nach der Nähe des potentiellen oder tatsächlichen Feindes steigt oder fällt. Verlaufen aber heutedie Fronten wirklich noch in Europa längs der nationalen Grenzen und nicht vielmehr entlang der ideologischen Trennungslinien? Und entspricht es wirklich den Grundsätzen hoher politischer Weisheit, an den politischen Grenzen Italiens eine Bevölkerung, die in jahrhundertealter Tradition von religiösem Brauchtum und bodenständiger, verwurzelter Bauernkultur aufgewachsen ist, durch eine bewußte oder geduldete Industrialisierungspolitik allnämlich in eine Industriebevölkerung mit fluktuierender Zusammensetzung und Ideologien umzusetzen?

Die Geschichte hat dem italienischen Volk einen Schatz von Kulturgütern und Kunstwerken anvertraut, wie ihn kaum ein anderes Volk sein eigen nennt. Es hat ihn mit einer Liebe und Andacht gehegt und gepflegt, die nicht überboten werden kann und den steten Dank der ganzen Kulturwelt verdient. •

Denken wir aber doch auch immer daran, daß die Geschichte dem italienischen Volk mit Südtirol einen lebendigen, lebenskräftigen Volksstamm mit jahrhundertealter, eigenartiger Kultur, voll der höchsten Werte, zur Wahrung und Pflege anvertraut hat. Ist diese Aufgabe, bei der es sich nicht um Statuen, Bilder, Bauwerke und Gärten, sondern um lebende Menschen und ihre hohen Kulturgüter handelt, weniger groß, weniger wichtig als die Pflege der Kunstwerke der Vergangenheit? Gibt es irgendeine Entschuldigung, mit der sich das italienische Volk dieser Aufpabe entziehen könnte? Es kann dies um so weniger tun, als man damit an die tiefsten Quellen des italienischen Volkscharakters rührt, wo Menschlichkeit und Verständnis für den Mitmenschen so lebendig sind, wie kaum irgendwo anders.

Aber auch die einfachsten Wahrheiten müssen ausgesprochen werden, wenn man sie dem andern zur Kenntnis bringen will. Ist nun wirklich alles von österreichischer oder Südtiroler Seite geschehen, um dem italienischen Volk das Problem in seinem ganzen Ernst, in seiner ganzen Größe und Tragweite näher zu bringen? Schon das bisherige negative Ergebnis läßt den Schluß zu, daß dies nicht der Fall war und daß nicht alle bisherigen Mittel, die man dafür aufwendete, dem Zwecke angemessen waren.

Es hat sich in den letzten Tagen soviel Trauriges an unseren Grenzen ereignet, daß man fast an den Möglichkeiten der primitivsten Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens verzweifeln möchte. Ich darf aber wohl zum Schluß noch eine ganz kleine primitive Geschichte von primitiven Menschen erzählen, die zeigt, daß Menschlichkeit und Güte auch in den schwersten Augenblicken eine Brücke von Mensch zu Mensch schlagen, über die man ruhig die schwierigsten Probleme federleicht hinübertragen kann.

Gelegentlich des Umsturzes in Italien infolge des Badoglio-Waffenstillstandes mußte ich wie alle andern Deutschen und Oesterreicher in Eile Rom verlassen, um der Gefangennahme durch die Alliierten zu entgehen. Irgendein armes, unbekanntes Dienstmädchen schulterte zwei meiner schweren Koffer und half sie mit, zum Bahnhof schleppen. Als es aber zum Zahlen kam, schüttelte sie energisch den Kopf und erklärte: „In einer solchen Situation nimmt man keine Bezahlung.“

Man möge mir verzeihen, wenn ich dagegen alle schönen Reden über internationale Kollaboration und Koexistenz irgendwie klein und armselig finde. Ist es wirklich zu viel verlangt, auch im Falle Südtirol gemeinsam die Last, die uns das Schicksal mit seinen Problemen auferlegt hat, zu tragen? Sie wird federleicht sein, wenn sich Menschen mit reinem Geist und gutem Willen, an denen es hüben und drüben nicht fehlt, an diese große und schöne Aufgabe, die uns da gestellt wurde, heranmachen.

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