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Gespräch am Brenner

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Sehr geehrter Herr Doktor Heer!

Ich achte und bewundere wie Sie, Herr Doktor Heer, das ehrliche Bemühen Indro Monta-nellis, Südtirol gegenüber einen gerechten Standpunkt zu beziehen. Das hindert aber nicht, daß mit eine Anzahl von Urteilen und Annahmen Montanellis falsch zu sein scheinen, und es ist gar kein Wunder, daß sie falsch sind: denn Montanem urteilt über Südtirol als Italiener, muß als Italiener aus seinem eigenen Lebensbereich heraus urteilen. Bedauerlich an der Sache ist nur, daß Sie, Herr Dr. Heer, diese falschen Urteile, die von falschen Voraussetzungen her kommen, unbesehen übernommen haben Ja Sie verschärfen sie sogar noch! Darf ich einen Beweis anführen? Montanelli spricht in seiner „Sorge um Südtirol“ von der Anziehungskraft, die der Aufstieg Deutschlands und Österreichs und das Wirtschaftswunder auf die Südtiroler ausübten und damit den ^Germanismus“ in seiner Seele förderten. Sie aber, Herr Doktor Heer, sprechen, Montanelli zitierend, lediglich vom „Blick des Südtirolers auf die deutsche Wirtschaftswunderwelt“, lassen den Hinweis auf den Aufstieg Österreichs aus, und schon. — ist der Südtiroler ein P a n-germanist, somit das Gefährlichste, was es heute gibt.

Und dies ausgerechnet in Tagen und Wochen, wo dieses Schreckgespenst wieder in der gesamten Weltpresse, nicht zuletzt in der neofaschistischen Italiens, umgeht. Nennen Sie das fair? Ganz abgesehen davon, daß auch das Urteil Montanellis nicht stimmt. Denn größere Anstrengungen, als die Südtiroler — unter der Führung von Großkaufleuten! — 1945/46 für das Selbstbestimmungsrecht, für die Rückkehr zum vierfach besetzten, hungernden, chaotischen Österreich vollbracht haben, konnte man füglich nicht verlangen. Erinnern Sie sich, Herr Doktor Heer, vielleicht noch an die 123.000 Südtiroler Unterschriften unter den erschütternden Text: „Es Ist unser unerschütterlicher Wunsch und Wille, daß unser Heimatland Südtirol vom Brenner bis zur Salurnerklause mit Nordtirol und Österreich wieder vereinigt erde. Wir bestätigen dies mit unserer Unterschrift“; die 1945/46 gesammelt wurden, praktisch die gesamte erwachsene Bevölkerung Südtirols umfaßten und zu Ostern 1946 Bundeskanzler Figl übergeben wurden? Südtirol hat sich dem Spruch von Paris 1946 gebeugt. Es hoffte auf den europäischen Geist Italiens, auf die loyale Anwendung des Pariser Abkommens. In den letzten Jahren und Monaten hat sich diese Hoffnung allmählich erschöpft — parallel hierzu kamen „Wunsch und Wille“ des Südtiroler Volkes wieder deutlicher zum Ausdruck. Es ist, Herr Doktor Heer, derselbe Wunsch und Wille wie im Elendsjahr 1946! Sie begnügen sich aber nicht mit dem Hinweis auf den „eigentümlichen“ Germanismus; dazu kommen noch die „eigentümlichen“ Züge „rassischer“ Überhebung, die Sie in den Südtirolern, Montanelli folgend, zu entdecken glauben. Und hierbei verweisen Sie auf einen von Montanelli angeblich gebrauchten Ausspruch von Professor Gschmtzer — „Wir wollen unsere rassische Integrität bewahren“ —, den feder, der Gschnitzer und seine Auffassung näher kennt, schlechterdings als nicht wahr erklären wird. Es gibt keine Tiroler

„Rasse“. Das hat aber nichts damit zu tun, wenn für ihn, wie für jeden von uns, die italienische Zuwanderung mit ihrer „eigentümlichen“ Bevölkerung eine Sorge bedeutet: aus nationalen, soziologischen und weltanschaulichen Gründen. Herr Doktor Heer, haben Sie sich jemals mit dem Kern der Südtiroler Frage, mit dem Kern der Auseinandersetzung zwischen Südtirol und Italien befaßt? Es geht doch im letzten gar nicht um die Anwendung des Pariser Abkommens, um Gesetze und 'Verordnungen! Es geht darum, daß hier zwei grundverschiedene Welten zusammengestoßen sind.

Beginnen wir mit dem Nationalen. Sie scheinen im Italien von heute noch das Italien Petrarcas und Dantes zu sehen, den wunderschönen „Garten des Reiches“, das „Urbane“ Italien. Herr Doktor Heer, dieses Italien gibt es heute nicht mehr. Dieses Italien ist inzwischen durch bittere Jahrhunderte der Fremdherrschaft gegangen und hat, bevor es zur Selbständigkeit fand, gerade die krasseste, die absolutistische, absolut un„reichische“ Form dieser Fremdherrschatt erlebt. Aus dieser Zeit, verstärkt noch durch den Umstand, daß Italien im Zeitalter des nationalstaatlichen Denkens und des mechanistischen Staatsprinzips zum Staat wurde, hat das italienische Volk eine Feindseligkeit gegen alles „Fremde“ bewahrt, die die Südtiroler tagtäglich am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Der ehemalige Botschafter Aldrovandi-Mareschotti, kein Faschist, sagte einmal: „Die Südtiroler leben südlich des Brenners, aber sie sollten nicht dort sein“ und der Refrain der Mameli-Hymne, der italienischen Nationalhymne also, „Va fuori d'ltalia, va fuori stranier“ ist in der Seele jedes einzelnen Italieners lebendig. Diese Gefühle der Italiener sind, verstehen Sie mich recht, durchaus verständlich, wenn man ihre Geschichte betrachtet. Aber eben diese Gefühle machen es ihnen unmöglich, im Pariser Abkommen mit seinem „Schutz der Südtiroler Volksgruppe“ etwas anderes als einen bitteren, demütigenden, von außen auferlegten Zwang zu betrachten, eine Folge des verlorenen Krieges, eine Anerkennung des „Fremden“ im eigenen Staat, eine W.un^e, die .selbst^ dam reibt, wenncjtej,s fidi: tiroler Unterhuber vor dem italienischen Richter deutsch spricht und sich dabei auf ein Recht berufen kann. —

Kommen wir zur soziologischen Seite und gehen wir gleich in medias res. Italien zählte (laut italienischer Volkszählung) im )ahr 1861 75 Prozent und 1909 49 Prozent Analphabeten. Selbst 1951 gab es noch 13 Prozent völlige Analphabeten, Leute also, die weder schreiben noch lesen können. Aha, nun kommt die Überheblichkeit! werden Sie ausrufen. Nein. Diese große Zahl, die für mitteleuropäische, österreichische Verhältnisse völlig undenkbar wäre, beweist etwas, woran Sie vielleicht nicht denken: Daß es in Italien nämlich stets eine unverhältnismäßig kleine Schicht war, die die Geschicke der Länder, der Städte, das gesamte öffentliche Leben lenkte, in Kultur und Wissenschaft wirkte, ja die dazu überhaupt in der Lage war. (In welchen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnissen die Analphabeten und ihre soziale Schicht lebten und leben, braucht nicht erörtert zu werden. Erinnern wir uns nur an das Buch des antifaschistischen Arztes Carlo Levi „Christus kam nur bis Eboli“.) Inbesondere gab es seit der Römerzeit kein selbständiges, mitspracheberechtigtes Bauerntum. Heute noch wird von den italienischen Staatsbürgern als „sudditi“ gesprochen. (Können Sie sich vorstellen, daß etwa Nationalratspräsident Figl von den österreichischen „Untertanen“ sprechen könnte?!) Und dieser Staat der dünnen Oberschicht, dieser zentralistische, nach napoleonischem Vorbild auf dem Reißbrett konstruierte Staat, in dem sich jede Amtsperson vom Briefträger aufwärts als Verkörperung des Staates empfindet und jeder „Untertan“ den Betrug „am Staat“ als legitime Verteidigung seiner Existenz ansieht, stößt nun auf diese Tiroler Bauern, in einer der ältesten Demokratien Europas dazu erzogen, sich selbst zu regieren, jeder ein König auf seinem Hof, gleichberechtigter Lenker der Fraktionen, der Gemeinden, des Landes. In Italien: der letzte Beamte Inkarnation des Staates. In Österreich: das Staatsoperhaupt Inkarnation des Volkes. Verstehen Sie nun neben der nationalen die weitere Beleidigung, die der Südtiroler mit seinem völlig unbefangenen, zähen Beharren, weiterhin nach seiner Art zu leben, zu verwalten, dem Italiener zufügt? Bauern, die behaupten, ihr Land und seine Bedürfnisse besser zu kennen als der Beamte aus Kala-brien, der Ingenieur aus Sardinien. Auf wessen Seife ist aber da die Überheblichkeit, auf wessen Seite das Recht, Herr Doktor Heer? Liegt das Grundübel, die Erbsünde, in diesem Konflikt nicht viel mehr darin, daß die Italiener dem Prinzip, „nach dem sie“ — im Risorgimento — „angetreten“, untreu geworden sind? Dem Prinzip nämlich, daß Italien ein Nationalstaat zu sein hat, jeder Italiener Angehöriger des italienischen Staates, jeder Angehörige des italienischen Staates ein Italiener? Die „Erbsünde“ ist die Annexion Südtirols, in vollem Bewuy.ic\:\, daß hier keine Italiener leben, daß es niemals italienisches Land war, durch lügnerische Vorspiegelungen um „imperialer“ Zielsetzungen willen erzwungen! Das ist der Keim des Übels, Herr Doktor Heer, die moralische Belastung, die tagtäglich Rom und jeden einzelnen Italiener, der mit Südtirol zu tun hat, bedrückt. Und es reizt zur Weißglut, daß die Südtiroler, insgesamt gesehen, frei von einer solchen moralischen Belastung agieren können, völlig gleichgültig, was man ihnen zufügen mag. Deshalb die ständige Überhitzung der italienischen Öffentlichkeit, das Umsichwerfen mit großen Schlagworten, das je nach Temperament zum Ärger oder zum Lächeln reizt. Nur deshalb ist es möglich, daß ein weißes und ein otes Bettuch, von einer Bäuerin aus dem Fenster gehängt, die Gewalt des Staates auf den Plan rufen kann. (Womit dann die Autorität des Staates wieder einmal eine Schlacht verloren hat.)

Um aber noch eine andere Seite dieser Frage zu streifen: Glauben Sie, daß es gesund ist, die Stadt auf das Land zu tragen, wie es in Südtirol durch die italienische Zuwanderung geschieht, oder ob es nicht gesünder ist, daß das Land den Nachschub für die Stadt bildet, wie es in Österreich und übrigens auch im übrigen Italien üblich ist? Wenn lndro Montanelli glaubt, daß Industrie gleich Fortschritt ist, dann beweist er, daß er, wie viele Italiener, mit seinen Auffassungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehengeblieben ist. Fortschritt ist die organische Ausgewogenheit aller sozialen Schichten, nicht der Bau von Mammutfabriken in exportintensiven Weinbaugebieten und der Bau von Riesenwohnblocks, in denen die Menschen zu Nummern werden. Jene Italiener, die glauben, den Südtirolern und uns Rückständigkeit vorwerfen zu müssen, sollten sich doch einmal die neuesten Erkenntnisse der amerikanischen, französischen, deutschen Soziologen, Bau-und Industrieplaner ansehen. Dann werden sie vielleicht aufhören, von unserer Überheblichkeit zu sprechen.

Zum Schluß das Weltanschauliche. Wissen Sie, Herr Doktor Heer, daß die Südtiroler auch auf diesem Gebiet sehr gute Gründe haben, sich gegen die italienische Zuwanderung und auch gegen die aus ihr resultierenden Ehen zwischen Arbeitern aus Rovigo und Südtiroler Bauerntöchtern zu wehren? (Haben Sie übrigens einmal die bildschönen 18jährigen Mädchen etwa auf Elba oder in Apulien gesehen und, ebenfalls dort, die 40jährigen, wie sechzig aussehenden Frauen mit harten verbitterten Gesichtszügen, schwarz gekleidet und schwer beladen zu Fuß neben dem auf einem Esel einherreitenden Mann? Glauben Sie nicht, daß selbst in den Formen des Zusammenlebens, gerade was Süditaliener betrifft — und ein Großteil der Zuwanderer kommt von dort —, so große Unterschiede bestehen, daß man besser trachten sollte, die Südtirolerinnen in dem ihnen gewohnten Lebenskreis zu belassen?)

Aber zum Weltanschaulichen im engeren Sinne: Wissen Sie, daß in Südtirol 0,5 Prozent (in Ziffern: 609) der deutschen Wähler Kommunisten ihre Stimme gab, aber 27 Prozent aller italienischen Wähler linksradikal wählen?

Wissen Sie, daß in der Industriezone Bozens 49 Prozent der Stimmen„ in denen von Meran

50 Prozent auf Kommunisten und Nennisozia-listen entfielen? Wissen Sie, daß fast alle Schlüsselstellungen, wie Post, Bahn, selbst Schulen, von Kommunisten besetzt sind?

Wer verteidigt da Europa: Der Tiroler, der Rom sagt: mit den Mitteln, die ihr zur Zerstörung unseres soziologisch gesunden, weltanschaulich gefestigten Volkskörpers aufwendet, könntet ihr in euren Elendsgebieten wirkliche Hilfe leisten! Oder der Italiener, der „im Namen Europas“ die Zerstörung historisch gewachsener Eigenart fordert? Als ob Europa Europa bliebe, wenn es New York gliche! Selbst Amerika ist nicht New York, und gerade das gibt ihm die Kraft, New York zu ertragen!

Wahrheit über Südtirol! Wir glauben, Herr Doktor Heer, auch für den reinen Klang der Glocken Roms zu kämpfen, wenn wir wünschen, daß die Südtiroler Dorfkirchen bleiben, was sie sind: Kirchen S ü d t i r o 1 s.

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