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Ethnische Sentimentalitäten?

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Ethnische Sentimentalitäten! Dieses Wort, welches so brutal und offen wie noch nie seit 1945 eine italienische Stimmung gegenüber der deutschsprachigen Bevölkerung kennzeichnete, gebrauchte der Präsident des Regionalrates in der Sitzung des Regionalrates vom Freitag, den 3. August, Dr. Odorizzi, anläßlich der Abstimmung über das Industriegesetz. Der erste Repräsentant der autonomen Region Südtirol-Trentino hat damit einen klaren Weg von De Gasperi bis heute beschritten, und es ist bezeichnend, daß ausgerechnet der Vertreter der Neofaschisten, Mantovani, ihm den Dank aussprach, daß die Democrazia Christiana sich „endlich daran erinnere, eine festere Haltung gegenüber der Südtiroler Volkspartei einzunehmen“. Auch der Vertreter der Democrazia Christiana, Dr. Dalvit, gab seiner Befriedigung Ausdruck, „daß es bei diesem Gesetze zum ersten Male in acht Jahren gelungen sei, alle italienischen Parteien zusammenzubringen; erfahrungsgemäß sei dies nicht so leicht“.

Es handelte sich bei dieser Regionalratssitzung um das Gesetz zum Schutze der Industrieunternehmungen Der Artikel 3 dieses Industriegesetzes enthält nämlich die Bestimmung, daß alle jene Industriebetriebe Zinsbeiträge von der Region erhalten können, die eine Belegschaft bis zu 500 Personen und ein Kapital bis zu 1,5 Milliarden Lire haben. Es war von vornherein klar, daß bei dieser Bestimmung nur italienische Betriebe in Frage kommen, da es keinen deutschen Betrieb in dieser Größe gibt. Deshalb brachte die Südtiroler Volkspartei einen Abänderungsvorschlag ein, demzufolge die obere Grenze der Belegschaft mit 150 (und später mit 200) Personen und das Kapital mit 400 Millionen hätte festgesetzt werden sollen.

Durch dieses Industriegesetz wird die Zuwanderung italienischer Arbeiter noch mehr gefördert und außerdem sollen die italienischen Industrieunternehmungen durch die Zinsbeiträge der Region unterstützt werden, während die deutschen Unternehmungen nicht mehr unter dieses Gesetz fallen.

Zur Klärung der Industriefrage ist es interessant, festzustellen, wie viele Industrieunternehmungen in der Region Südtirol-Trentino sich befinden.

Nach der letzten Zählung sind es 12.609 Unternehmen mit 13.840 örtlichen Betrieben. Hiervon sind allerdings reine Industrieunternehmen 1796, während die übrigen nur als Handwerksbetriebe zu rechnen sind. Die Industrie in der Region ist zum größten Teile im Lande verstreut. Die größten Werke befinden sich allerdings in der Bozener Industriezone, weitere Industriezonen sind in Trient, Rovereto und Meran. In Bozen sind rund 12.000 Arbeiter beschäftigt, in Trient 8000 und in Rovereto 5000. Insgesamt werden rund 70.000 Industriearbeiter in der Region gezählt, wovon nicht einmal 30.000 in den obgenannten Zentren beschäftigt sind, während die übrigen 41.000 in den kleineren Betrieben, die im Lande verstreut sind, arbeiten.

Der größte Teil der Kleinindustrien ist nun in deutschen Händen und diesen Kleinindustrien soll die Unterstützung der Region entzogen werden bzw. sollen dieselben von einer geplanten Unterstützung durch Zinsbeiträge ausgeschlossen werden.

Die Südtiroler Volkspartei hat Gegenvorschläge gemacht, durch welche die Kleinindustrien ebenfalls dieser Unterstützung teilhaft werden sollten und dergestalt die Minderheit mehr geschützt wird. Bei der Debatte über dieses Gesetz zeigte es sich deutlicher denn je, daß die Region Südtirol-Trentino nur geschaffen wurde, um dem Buchstaben des Pariser Abkommens nach einen Minderheitenschutz zu schaffen, während in Wirklichkeit durch die italienische Mehrheit die deutschen Vertreter niedergestimmt und den italienischen Interessen Tür und Tor geöffnet werden.

Der Vertreter der Südtiroler Volkspartei, Dr. Brugger, hat auch in der Schlußdebatte eindeutig die Stellung der Südtiroler zum Ausdruck gebracht und festgestellt:

Daß es trotz den größten Anstrengungen der deutschen Vertreter nicht gelungen ist, in 'das Industriegesetz eine Schutzklausel einzubringen, die eine teilweise Verhinderung der Zuwanderung von Arbeitskräften aus den italienischen Provinzen erreicht hätte, denn es wurde im Regionalrat ein maßgebliches Mitspracherecht der Landesstellen abgelehnt. „Wir sehen in der Haltung der italienischen Mehrheit gegenüber diesem für den völkischen Bestand unserer Volksgruppe gefährlichen Gesetz den klaren Willen, die im Pariser Vertrag zum Schutz unserer Minderheit vorgesehenen Bestimmungen gering zu schätzen.“

Bei der Abstimmung haben von den 25 anwesenden Räten aus der Provinz Trient 24 für as Gesetz und die fünf italienischen Abgeordneten der Provinz Bozen ebenfalls für das Gesetz gestimmt, während die 15 anwesenden deutschen Abgeordneten der Provinz Bozen gegen das Gesetz stimmten. Somit ergibt sich, daß 30 italienische gegen 15 deutsche Ab geordnete stehen und es ist klar, daß trotz dieses Autonomiestatuts, welches ja noch zum größten Teil nicht einmal in Kraft ist, die Interessen der •Südtiroler stets überstimmt werden. Wenn auch, laut Artikel 73 des Autonomiestatuts, das Gesetz an und für sich abgelehnt ist, weil die Mehrheit eines Landtages (des Bozener Landtages) gegen das Gesetz stimmte und die endgültige Entscheidung der Innenminister in Rom treffen wird, gegen dessen Entscheidung noch der Weg zum Verfassungsgerichtshof offensteht, so ist durch dieses Beispiel klar und eindeutig bewiesen, daß die deutsche Minderheit im Autonomiestatut kein sicheres Rechtsmittel hat, da gerade durch das Autonomiestatut die Minderheit der Trentiner Mehrheit ausgeliefert ist und es daher keinen Schutz der deutschen Volksgruppe vor lleber-völkerung und Zuwanderung aus den italienischen Provinzen schafft.

Die italienische Regierung und die italienische Presse hat es sich bis jetzt sehr leicht gemacht, auf alle Hinweise (von Anschuldigungen kann gar keine Rede sein) einfach damit zu antworten, daß die italienische Regierung sich streng an den Buchstaben des Pariser Abkommens halte und daß sämtliche deutsche Veröffentlichungen nicht der Wahrheit entsprächen.

Wie die Wirklichkeit aussieht, wird durch die Debatte über das Industriegesetz wieder einmal bewiesen und man muß dem Präsidenten des Regionalrates, Dr. Odorizzi, dankbar sein, daß er in seiner Eigenschaft als Präsident den wirklichen Sinn und die Absicht der italienischen Regierung klipp und klar ausgedrückt hat, indem er spöttischerweise von „ethnischen Sentimentalitäten“ sprach, obwohl es sich um die Lebensinteress'en der deutschen und ladinischen Volksgruppe von rund 240.000 Seelen handelt.

Eindeutiger kann die italienische Stimmung wohl kaum ausgedrückt werden. Es dürfte wohl selbst dem leidenschaftslosesten und objektivsten Beobachter schwerfallen, angesichts dieser harten Offenheit an den guten Willen und den .Geist der Zusammenarbeit der italienischen Behörden zu glauben. Es darf auch weiter nicht wundernehmen, daß die Südtiroler Bevölkerung sich den Schutz eben dort sucht, wo sie ihn von Gesetzes wegen finden kann, nämlich in den Bestimmungen des Pariser Abkommens, welches ja ein Teil des Friedensvertrages ist, was man italienischerseits nicht wahrhaben will und vergessen möchte.

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