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Wenn die Schwalben nordwärts ziehen...

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Der Zug vom Süden nach Norden in Italien ist nicht neu. Diese innerstaatliche Wanderung ist auch im Artikel 16 der italienischen Verfassung berücksichtigt, nach dem jeder Staatsbürger reisen und sich frei aufhalten kann, gleich in welchem Teil des nationalen Territoriums, vorbehaltlich der Beschränkungen, die das Gesetz im allgemeinen aus gesundheitlichen oder staatssicherheitsrechtlichen Gründen vorsieht. Jedem Staatsbürger steht es frei, aus dem Staatsgebiet auszureisen und wieder einzureisen, solange er die gesetzlichen Bestimmungen beachtet.

Ein Prozeß in Rom hat kürzlich das Problem klar vor Augen geführt. Ein Mann hatte die Gemeinde Rom geklagt, weil sie ihm die Einwanderung in die Stadt auf Grund faschistischer und nachfaschistischer Gesetze, die der allzu großen Einwanderung von Landbevölkerung in die großen Städte einen RiegeT vorschieben'.sollen, untersagt hätte: Das“ Tribunal-von Rom hat dem Kläger recht gegeben und der Gemeinde Rom die Eintragung in die Einwohnerliste aufgetragen. Die Gemeinde Rom hat gegen dieses Urteil berufen. Dieser Berufung haben nun auch mit fast dramatischen Erklärungen die Großstädte Turin, Mailand und Genua assistiert.

Der Bürgermeister der Gemeinde Turin, Amadeus P e y r o n, erklärte: „Im Jahre 1951 hatte Turin 714.000 Einwohner, heute hat es mehr als 905.000, also um 200.000 Einwohner mehr innerhalb von sechs Jahren. Der Geist der Verfassung ist stets strenge respektiert worden: nach sechs Monaten Aufenthalt konnte sich jeder, der eine geordnete Beschäftigung nachweisen konnte, in die Einwohnerliste eintragen lassen. Nun aber scheint die Situation reichlich überreif. Ich glaube, daß Turin in diesem Augenblick nicht mehr die Möglichkeit hat, neue Einwanderer aufzunehmen. Die Bautätigkeit stockt, und ich glaube, daß die Möglichkeiten der Arbeiten für die großen Gebirgsstraßen über den Großen St. Bernhard und die Tunnelbauten erschöpft sind und keine neuen Arbeiter mehr aufgenommen werden können.“

Der Bürgermeister der Stadt Mailand, Vir-gilio Ferrari, steht ebenso auf dem Standpunkt, daß die Einwanderung gestoppt werden müsse, und glaubt, daß die Gründe, die im Urteil des Tribunals von Rom angeführt sind, von den Gemeindeverwaltungen nicht angenommen werden können, weil das Phänomen der Einwanderungen die Gemeinden in schwere Belastungen stürzt. Er schlägt daher eine Zusammenkunft sämtlicher Bürgermeister vor, umeine Aktion gegen das Urteil des Tribunals in Rom im Wege eines Kassationsrekurses zu studieren und die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers auf das Gesamtphänomen zu lenken.

Auch der Bürgermeister von Rom, Urbano Cioccetti, sagt, daß eine schrankenlose Einwanderung ungeheure Folgen für die Verwaltung haben könne. Der Rekurs der Stadtverwaltung Rom gegen das Urteil des Tribunals sei nicht von Opposition, sondern von sozialer Notwendigkeit diktiert und müsse nicht nur vom juridischen; sondern auch vom sozialen Standpunkt aus behandelt ve 'en.

Diese Aeußerungen der Bürgermeister der drei größten italienischen Städte zeigen sorit klar, daß die Einwanderung der Süditaliener nach dem Norden überall vordringt und sich jede große Stadt gegen eine uneingeschränkte Einwanderung zur Wehr setzt.

In einem Artikel des bekannten italienischen Journalisten Vittorio Z i n c o n e in der italienischen Zeitung „L'Europaeo“ vom 6. Juli 1958 wird nun dafür plädiert, daß die Wanderung zwar gestoppt werden müsse, nicht aber, wie die österreichfreundlichen Südtiroler forderten, die Wanderung von einer zur anderen Provinz einfach verboten werden dürfe . .. !

Und so geschieht das Kuriose: Während sich Rom, Mailand, Genua, Türin und andere norditalienische Städte einmütig gegen das Ueber-handnehmen der Einwanderung aus dem Süden stellen und gesetzliche Mittel zur Verhinderung dieser Einwanderung vorschlagen, ja verlangen, stellt der italienische Minister Tonni der Stadt Bozen neuerdings 2,5 Milliarden Lire zur Verfügung, uni die Einwanderung der Süditaliener nach Südtirol noch mehr zu forcieren. Der Sinn dieser Geste des italienischen Ministers Tonni und der italienischen Stadtverwaltung von Bozen ist klar: es sollen möglichst viele Italiener möglichst rasch in die Provinz Bozen, und hier hauptsächlich in die Städte Bozen und Meran, verpflanzt werden. Heute schon hat die Stadt Bozen, die im Jahre 1910 noch rein deutschsprachig war, eine italienische Mehrheit (in der Gemeinde Bozen rund 60 Prozent).

Die Gesamttendenz der italienischen Nord-Süd-Wanderung ist vorwiegend auf wirtschaftliche Gründe zurückzuführen. Der Bau von einem Kilometer Straße in der Poebene kostet nur ein Siebentel bis ein Sechstel des Preises in den Gebirgsgegenden von Calabrien. Ein Industrieobjekt in einer bereits von der Natur aus begünstigten Gegend mit Wasserkraft und allen anderen Hilfsmitteln anzulegen, ist um ein Vielfaches billiger als in Gegenden, wo nur wenig Industrie vorhanden ist. Der Zusammenhang mit den gegenwärtigen und zukünftigen Handelsplätzen, insbesondere Frankreich, der Schweiz, Oesterreich und Deutschland, ist natürlich von der Poebene und den anderen norditalienischen Gegenden weitaus günstiger als vom Süden; dazu kommt noch die unerschöpfliche Wasserkraft im Norden: die Gletscher der Alpen, die für die Elektroenergie Voraussetzung sind. Die moderne Industrie benötigt riesige Wassermengen (die Fiat-Werke allein brauchen mehr Wasser als eine Stadt mit 100.000 Einwohner), während in Süditalien all das nicht' vorhanden ist und daher Industrien in Süditalien nur schwer, wenn überhaupt existieren können. Süditalien ist weitaus ärmer als Norditalien; man kann hier die Parallele ziehen zwischen dem armen Irland und dem reichen England, der armen Slowakei und dem reichen Böhmen. Man darf nicht vergessen, daß Italien aus einer Menge kleiner Staaten entstanden ist, die, mehr oder weniger plötzlich unter einen Hut gebracht, nun dieselben Gesetze erhielten, während die Lebensbedingungen im Norden ganz andere waren als im Süden.

An sich ist es verständlich, daß die Süditaliener nach Norden ziehen wollen, eben aus dem einfachen Grunde, weil sie sich im Norden bessere Lebensbedingungen erhoffen (und auch zum Teil finden). Auf diese Weise aber wird der Süden noch weiter verarmen, während der Norden durch den Zuzug nicht nur nicht Gewinn zieht, sondern sogar in wirtschaftliche und soziale Schwierigkeiten gerät. So benötigt die Stadt Mailand nur für Wohnungsuchende aus dem Süden alle Jahre ungefähr 5000 Wohnungen, eine große Menge, wenn man bedenkt, daß die Kosten dieser Bauten sich wahrscheinlicherweise nie amortisieren werden und daher den Steuerträgern zur Last fallen.

Es ist somit verständlich, wenn sich die Städte .dagegen zur Wehr setzen. Warum aber — fragen sich die Südtiroler — soll einzig und allein Bozen weiterhin und noch mehr seine Tore öffnen? Wenn für diese Provinz andere Maßstäbe gelten sollen wie für das übrige Land — dann also heraus mit der Autonomie für eine selbständige Provinz Bozen!

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