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Bomben oder Verhandlungen?

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Die sogenannten Freiheitskämpfer rühmen sich vor österreichischen Gerichten, sie hätten die weitere Zuwanderung durch die Bomben unterbunden, sie hätten die Verhandlungen zuwege und weitergebrachit (Verhandlungen, von denen sie obendrein sagen, sie gingen nicht weiter und sie nützten nichts), es sei ihr Erfolg, daß man heute überall in der Welt von Südtirol rede.

Als die Bomben krachten, hatte die italienische Zuwanderung längst aufgehört: Deutschland, die Schweiz, selbst Österreich waren für italienische Auswanderer lukrativer geworden als Südtirol, das selber eine Überproduktion an „nutzlosen Händen“, an Arbeitslosen, hatte, die exportiert werden mußten; heute sind rund 10.000 „Südtiroler“ im Ausland beschäftigt, also aus Südtirol abgewandert: 2000 davon sind Italiener.

Und die Verhandlungen? Ihr Ergebnis — sowohl jener der Neunzehnerkommission als auch der bilateralen österreichisch-italienischen Außenministerverhandlungen — ist bis heute, praktisch gesehen zwar Null. Politisch gesehen haben jedoch diese Verhandlungen völlig neue Ausgangspositionen geschaffen. Es ist eine Frage der Zeit, wann ein Teil der in den Verhandlungen erzielten Ergebnisse zur Praxis werden wird — und es wird nur die Frage von etwas mehr Zeit sein, wann all das, was die Neunzehn beschlossen haben, und wahrscheinlich auch manches von dem, was die Neunzehn noch nicht zu beschließen gewagt haben, zur erweiterten autonomen Praxis werden wird. Die Südtiroler haben es — siehe das oben Gesagte — in der Hand, diese Prozesse zu beschleunigen. Eines ist gewiß: Indem die italienische Regierung in der Reihe ihrer offiziellen „Documenti“ den Bericht der Neunzehnerkommission veröffentlicht hat, und zwar nicht nur in italienischer Sprache, hat sie das Sündenregister der früheren Regierungen auf sich genommen, und sie hat obendrein nicht einen Schlußpunkt unter die Südtirolfrage gesetzt, sondern eine neue Ausgangsbasis geschaffen — eine Ausgangsbasis, die so gut ist, daß ich nicht weiß, ob sie die Südtiroler praktisch ohne weiteres werden bewältigen können,

— ich meine: sofort werden bewältigen können.

Der Hinweis der Südtiroler Vertreter in der Neunzehnerkommission darauf, daß Minderheitenprobleme Probleme in Entwicklung sind,

— daß jede neue Lösung neue Entwicklungen einleitet, die ihrerseits wieder neue Probleme aufwerfen und neue Lösungen erfordern, ist eine politische Bekundung, die anzeigt, daß man in Südtirol nicht nur rechtlich, nicht nur machtpolitisch beziehungsweise egoistisch-machtpolitisch denkt, sondern daß man allmählich gesellschaftspolitisch zu denken lernt.

Der Prozeß

Den Effekt der Bomben hat Toni Ebner in einem Leitartikel der „Dolomiten“ vor kurzem klar dargelegt: Tausende Mann Militär im Land, okkupierte Schutzhütten, ein nur durch italienische südländische Betätigungslust gemildertes (manchmal auch durch unterentwickelte Arroganz verschärftes) Polizeiregime, wirtschaftliche Verluste aus dem vorübergehenden Rückgang der Fremdenverkehrsfrequenz und wegen unterbliebener Investitionen: das ist die Negativbilanz. Allerdings — einen positiven Effekt hat es gegeben: den ersten Mailänder Prozeß. Dort haben Sepp Kersch- baumer und einzelne seiner Freunde, dort haben vor allem einzelne der Anwälte ein Forum erhalten, von dem aus sie zu einem Italien sprechen konnten, das die Südtiroler bis dahin nur verzerrt, nur aus verlo-

genen Karikaturen gekannt hatten, — dort wurde einem großen italienischen Publikum vorgehalten, was Italien zum Entstehen des Südtiroler Terrors beigetrageh hat, durch Unterlassungen, durch Mißdeutungen des Pariser Vertrages, durch Mißachtung der eigenen Verfassung — und, was noch schwerer wiegt, ein unabhängiges, wenn auch eher hart urteilendes Gericht hat das Sündenregister der Angeklagten auf die

Waage gelegt. Die Urteile gegen die Angeklagten fielen hart aus, das Urteil gegen Rom war nicht milder. Das ist das historische Verdienst Sepp Kerschbaumers und seiner Freunde. Ein zweites historisches Verdienst könnten sie sich dadurch erworben haben, daß sie den Nachweis erbrachten, daß Bomben in der Demokratie ein unangemessenes Kampfmittel sind.

Heraus aus dem Getto

Man hat aus der Tatsache, daß rund 70 Prozent der deutsch- und ladi- nischsprachigen Südtiroler in und von der Landwirtschaft leben, richtig abgeleitet, daß die Südtiroler eine unterentwickelte Minderheit sind. Sie sind indes auch politisch unterentwickelt: Seit 1918 sind sie vom politischen Kreislauf Nordtirols und Österreichs ausgeschlossen, in den politischen Kreislauf Italiens haben sie sich — zum Unterschied von der Wirtschaft — nie integriert. So erleben wir das seltsame Phänomen, daß für die Democrazia Christiana selbstverständlich ist, was gewissen christlichsozialen Kreisen der Südtiroler Volkspartei noch als Verbrechen erscheint — zum Beispiel die Zusammenarbeit mit der demokratischen Linken, zum Beispiel der Dialog mit links. Wer links ist, wird in Südtirol noch mit Hörnern und Schwanz gemalt. Nicht nur Jenny. Vor kurzem haben die „Dolomiten“ Hans Dietl heftig angegriffen, weil er sich den Sozialisten Fortuna als Anwalt genommen hat.

Diffamierung an Stelle der Auseinandersetzung, Verdächtigungen statt des Kampfes der Ideen: solche Sachen haben immer einen üblen Beigeschmack. Aber die Entwicklung geht auch hier sehr rasch: Vor fünf Jahren schrieb der Leiter der evangelischen Gemeinde in Bozen einen Brief an eine deutsche Zeitung, in der er sich darüber beschwerte, daß die „Dolomiten“ sich weigerten, die Gottesdienste der Protestanten in Bozen und Meran anzukündigen. Heute werden diese Gottesdienste angekündigt. Nach dem Konzil wäre anderes wohl auch nicht denkbar.

So wird es auch mit anderen Dingen gehen. Südtirol ist heute kein Getto mehr; es kann, wenn es sich nicht selbst aufgeben will, keines mehr sein. Also muß es sich in den europäischen Kreislauf der Ideen integrieren, muß es sich der Welt stellen, in welcher Form sich ihm das Neue immer präsentieren mag — ob freundlich oder bedrohlich.

Man kann nur das bewältigen,was man erkennt, was man versteht, was man sieht.

Der amputierte Organismus

Dazu noch einige Hinweise auf die Psychologie der Südtiroler Minderheit.

• Die Südtiroler haben dreimal: 1919 bis 1921, dann 1939 bis 1945 und dann wieder nach 1953 den gesamten natürlichen Zuwachs verloren; Zwischen 1910 und 1921 ging die Minderheit von 235.000 Einheiten auf 223.000 zurück. Nettoverlust: 12.000 Menschen. Zwischen 1939 und 1951 fiel die Minderheit von 256.000 Einheiten auf 227.000 Einheiten ab; Nettoverlust: 29.000 Menschen. Da zwischen 1945 und 1951 ein großer Aufholprozeß stattfand, muß der durch den zweiten Weltkrieg und die Option eingetretene Nettoverlust mit rund 35.000 Einheiten (30.000 Abge-

wanderte, 5000 Gefallene) angenommen werden. Der Aufholprozeß von nach 1953 wurde zu einem großen Teil von der „ökonomischen Emigration“ — heute zwischen 8000 und 10.000 — zunichte gemacht.

• Die Südtiroler sind eine amputierte Gesellschaft, eine Gesellschaft auf relativ hohem Zivilisations- und Entwicklungsniveau, die aber nicht komplett ist und nicht proportional geschichtet ist. Jahrzehntelang hatte die Minderheit kaum eine Arbeiterund Angestelltenschaft.

• Die italienischen Regierungen zwischen 1922 und 1953 erzeugten im Lande genau jene Situation, die nationale Explosionen begünstigt, ja geradezu provoziert. Das Land, die Dörfer gehörenden deutschen und ladinischen Tirolern, die Städte den Italienern. Es ist dies genau jenes Verhältnis, das vor 1918 in Görz- Gradisca, Triest, im adriatischen Küstenland, in Istrien bestanden hat: Italiener in den Städten, Slawen auf dem Lande. Die Effekte dieser Situation kennen wir.

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