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Südtirol: Warten auf Europa

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Am späten Abend des 25. Juli 1943 machte sich in Bozen eine große Aufregung und Spannung bemerkbar. Kreischende Bremsen dutzender Autos durchbrachen die Sonntagsruhe, ln den militärischen und zivilen Aemtern herrschte ein hektisches Gewimmel. Am Montag erfuhren die Einwohner den Grund: Der „Große faschistische Rat” hatte Mussolini zur Abdankung gezwungen. Auf Befehl des Königs Viktor Emanuel und des Generals Badoglio war der Duce beim Verlassen des Königspalastes in Haft genommen und mit einem Sanitätswagen abtransportiert worden.

Die führenden Köpfe Südtirols wußten, daß nun ihre Stunde gekommen war. Das Volk selbst war in zwei große Gruppen geteilt: die eine war für ein schleuniges Verlassen des Gebietes, um den Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen, die andere Gruppe aber war für Bleiben. Für das „Bleiben” war die Aussicht maßgebend, daß nun endlich die Freiheitsstunde für das Südtiroler Volk schlagen könnte. Im Sommerhaus’ eines Böznfer Kaufmannes auf dem’ Ritten versammelten sich die Vertrauensleute der „Heimattreuen Südtiroler”, wie sich die Schar derjenigen, die ausharren wollten, nannte. Ein Abgesandter der Nordtiroler Widerstandsbewegung kam mit bestimmten Direktiven zu dieser Zusammenkunft: Im Laufe der Kampfhandlungen werde die deutsche Front, die noch quer durch Süditalien ging, sicher bis zum Alpenkamm zurückgedrängt werden. Die Südtiroler sollten daher Vertrauensleute in Gebiete, die nicht mehr von den Achsenmächten kontrolliert werden, entsenden. Diese Leute sollten Verbindung mit den Alliierten auf nehmen, um einen möglichst gut vorbereiteten Start für die künftigen Friedensverhandlungen zu haben.

Es wurde beschlossen, Kanonikus Michael Gamper wegzuschicken, den ja zudem die bevorstehende deutsche Besetzung bedrohen würde: der Priester war als Gegner des Nationalsozialismus bekannt und hatte offen gegen die Option für Deutschland Stellung genommen.

Zuerst wurden die nötigen Gebrauchsgegenstände und vor allem Akten und Literaturunterlagen, die Gamper zur Ausarbeitung einer Denkschrift an die Alliierten brauchte, in die Nähe von Florenz gebracht. Mit 1. September 1943 sollte Gamper seinen — wie es offiziell hieß — „Urlaub” antreten, sich bei Florenz verstecken und von der Front „überrollen” lassen.

Gamper aber konnte den Athesia-Verlag und seine Arbeit nicht so ohne weiteres im Stich lassen und war am 8. September noch in Bozen, als Badoglio seinen Waffenstillstand mit den Alliierten abschloß. Damit war der Weg nach dem Süden versperrt. Dennoch gelang es wegekundigen, unerschrockenen Männern, den Kanonikus durch die Sperrlinien der Besatzungstruppen zu schleusen und in den Bergen zu verstecken, während die Gestapo bereits nach Gamper fahndete. Sieben Wochen später brachte ein Abwehroffizier Gamper, den man getarnt hatte, auf Umwegen nach Padua, von wo er nach Florenz entkommen konnte.

In einem sicheren Versteck in Florenz arbeitete Gamper eineinhalb Jahre an einer umfassenden Denkschrift des ganzen Südtirolproblems. Ende 1944 war diese Denkschrift fertig. Im Februar 1945 gelang es dem Kanonikus, nach Rom zu kommen und die Denkschrift in 120 Exemplaren in deutscher, englischer und französischer Sprache den maßgeblichen Stellen zuzuleiten.

Die Denkschrift enthielt umfassende historische und statistische Belege, die Gamper seinem mitgebrachten Material entnommen hatte. Teilweise hatte sich der Autor die Unterlagen auch aus italienischen Bibliotheken in Rom und Florenz verschafft, wobei unfreiwillig und ohne jede Ahnung, zu welchem wirklichen Zweck dieses Bibliotheksmaterial gebraucht werde, einer der bekanntesten Gegenspieler der Südtiroler, Professor Carlo B a 11 i s t i, den Handlanger machte…

Der Denkschrift waren 25 Beilagen angehängt, darunter wieder fünf Denkschriften für sich: Südtirol auf der Friedenskonferenz, Südtirol unter italienischer Herkunft, die geistigen Kräfte des Italianisierungswerkes, Südtirols Deutschsprachigkeit und die Umsiedlung der Südtiroler in das Deutsche Reich.

Nach einer genauen, umfassenden Schilderung der Entwicklung der Südtirolfrage, der Geschichte und Geographie des Landes machte Gamper „Vorschläge zur Wiederherstellung der natürlichen Ordnung in Tirol”.

Kanonikus Gamper zitierte Präsident Wilson, der auf der Friedenskonferenz, bei der Sitzung der „Vier” am 20. April 1919, auf seinen Punkt der „14 Punkte” hingewiesen hatte: „Es soll eine Berichtigung der Grenze Italiens nach den klar erkennbaren nationalen Linien durchgeführt werden.” Wilson sagte dazu:

„Wenn wir uns nicht in Uebereinstimmung hielten mit diesem Punkt, sondern den Vertrag, auf den Italien sich stützt (Londoner Geheimvertrag von 1915), zur Grundlage nehmen, würden wir Antagonismen schaffen, deren Flammen nicht eher gelöscht werden könnten, als bis wir die Dinge auf andere Grundlagen zurückversetzt haben werden.” Deshalb schlug Gamper vor:

„Südtirol soll mit dem Lande Tirol wieder vereinigt und dem neu erstehenden Oesterreich eingegliedert werden.”

Dazu zitiert der Autor auch Italiens Ministerpräsidenten Orlando, der in seiner Antwort auf das Manifest Wilsons am 23. April 1919 erklärt hatte: Nationalisierung kann keine Rechte schaffen.” Gamper wies auch darauf hin, daß die zwanzigjährige Unterdrückungspolitik und die fortgesetzt gesteigerte Zufuhr von Italienern nach Südtirol nicht imstande gewesen sind, den deutschsprachigen Gesamtcharakter des Landes wesentlich zu beeinflussen. Selbst die objektive italienische Wissenschaft müsse dies zugeben …

Zum Abschluß der Denkschrift schrieb Michael Gamper, daß ein vereinigtes Tirol in einem freien Oesterreich zusammen mit der neutralen Schweiz einen isolierenden Alpengürtel geben würde, der imperialistischen Bestrebungen im Wege stünde und Tirol zu einem Hort des Friedens in diesem Teil Zentraleuropas machen würde.

In einem Appell an die Alliierten hieß es schließlich:

„Aus der unbeschreiblichen seelischen Not heraus, in die 25jährige Fremdherrschaft, beispiellose nationale Unterdrückung und die Vertreibung von rund 80.000 ihrer Mitbürger aus der Heimat die Südtiroler gebracht hat, wenden sich diese mit der vorliegenden Denkschrift rettungsuchend und vertrauensvoll an die Alliierten.”

Das letzte Argument der Denkschrift:

„Amerika und Großbritannien haben sich in der für die bevorstehende Neuordnung in Europa vereinbarten Atlantikcharta gegen jede Regelung territorialer Fragen ausgesprochen, die nicht mit den frei geäußerten Wünschen der interessierten Völker übereinstimmt.”

Wie sich wenige Monate später herausstellen sollte, war die Denkschrift zwecklos gewesen, waren, gleich wie die Punkte Wilsons, diesmal die Erklärungen der Atlantikcharta leeres Papier geblieben, weil westliche Interessen die Erfüllung verhinderten!

Zehn Jahre nach Abfassung der Denkschrift konnte sie veröffentlicht werden in der Michael- Gamper-Festschrift „Südtirol in Not und Bewährung”, die anläßlich des 70. Geburtstages des Priesters und Kämpfers herausgegeben wurde.

Als am 8. Mai Vertreter der Bevölkerung aus allen Teilen des Landes in Gries-Bozen die „Südtiroler Volkspartei” als Einheitspartei aller Südtiroler gründeten, wurde in Punkt 3 des Parteiprogrammes ausgesprochen: „ …seine (Südtirols) Vertreter zu ermächtigen, unter Ausschluß illegaler Methoden den Anspruch des Südtiroler Volkes auf Ausübung des Selbstbestimmungsrechtes bei den Alliierten-Mächten zu vertreten.”

Diese Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht schien 1945 keine Utopie zu sein. Die Südtiroler glaubten — und das mit gutem Recht —, die Alliierten würden das Unrecht des Faschismus wiedergutmachen. Und dies um so mehr, als die Alliierten-Besatzung dafür sorgte, daß nach demokratischen Spielregeln deutsche Schulen und deutsche Sprache wieder gleichberechtigt waren! Und als am 19. Mai 1945 die Italiener die wiedererstandene Zeitung „Dolomiten” beschlagnahmten, weil sie das Parteiprogramm mit der Forderung nach Selbstbestimmung veröffentlicht hatte, schritten die Besatzungsbehörden sofort ein und erklärten, daß die Südtiroler das Recht der freien Meinungsäußerung hätten.

Auch die italienischen Parteien organisierten sich. Im „Nationalen Befreiungskomitee” saßen sechs Parteien, von den Christlichsozialen bis zu den Kommunisten. Das Komitee erklärte, daß es für demokratische Rechte und damit für die Gleichberechtigung und Zusammenarbeit mit den Südtirolern eintrete. In der Praxis sah das so aus, daß nach der Uebernahme der Verwaltung durch die Italiener zum Jahresende 1945 sämtliche Schlüsselstellungen in italienischen Händen waren und der einzige Südtiroler Funktionär auf der Präfektur, Vizepräfekt A m o n n, seines Postens enthoben wurde. Ja ein Memorandum der obersten italienischen Siedlungsbehörde in Südtirol an das Innenministerium regte an, alle Optanten, die noch im Lande waren, als lästige Ausländer abzuschieben.

Die Südtiroler aber glaubten, daß diese Zeit vorübergehen werde und die Alliierten zugunsten der Südtiroler eingreifen würden. Sie glaubten, daß man nicht das „Vermächtnis” Hitlers, als einziges seiner Vermächtnisse, gelten lassen würde, in dem er Südtirol Italien auf ewig vermachte. Hitler hatte in einem Trinkspruch in Rom am 7. Mai 1938 als Dank für die Neutralität, die Italien bei der Annektion Oesterreichs, bewahrte (Mussolini hatte unter anderem am 6. Oktober 1934 noch einmal den Entschluß verkündet, die „österreichische Unabhängigkeit mit allen Mitteln zu verteidigen”), erklärt:

„Es ist mein unerschütterlicher Wille und mein Vermächtnis an das deutsche Volk, daß es die von der Natur zwischen uns beiden aufgerichtete Alpengrenze für immer als eine i unantastbare ansieht!”

Der Glaube an das Selbstbestimmungsre-’ht schwand erst dahin, als die Verhandlungen um den italienischen Friedensvertrag zeigten, daß ein zweites St. Germain bevorstand, und der „Pariser Vertrag” als Ausweichgeleise schien der Südtiroler Volksgruppe wenigstens einen international verankerten Schutz angedeihen zu lassen.

Der „Ausschuß für Auswärtige Angelegenheiten” des österreichischen Nationalrates nahm am 1. Oktober 1946 eine von den Abgeordneten Dr. Pemter (OeVP) und Dr. Schärf (SPOe) vorgelegte Resolution an, in der es heißt:

„ … Die mit Italien vereinbarte Regelung, von der nicht feststeht, ob sie die Zustimmung des gesamten Südtiroler Volkes gefunden hat, bedarf noch mancher Interpretation, um als Zwischenlösung angesehen werden zu können. Die Haltung Oesterreichs bedeutet in keiner Weise einen Verzicht auf die unveräußerlichen Rechte unseres Staates auf Südtirol. Der Ausschuß gibt der bestimmten Hoffnung Ausdruck, daß eine geänderte Weltlage in Zukunft den Südtirolern die Möglichkeit der Selbstbestimmung über ihre staatliche Zugehörigkeit geben wird. Er ist der Meinung, daß dieses Prinzip der einzige Weg für eine dauernde Lösung der Südtiroler Frage ist, die von Oesterreich als gerecht und befriedigend angenommen werden könnte.”

Mit diesen Sätzen möge unsere dokumentarische Publikation enden. Dieses Zitat soll zeigen, daß Oesterreich geduldig und guten Willens ist, wenn es nach wie vor auf dem Boden des Pariser Abkommens bleibt, eine wahrhaft europäische Lösung der Gleichberechtigung europäischer Menschen anstrebt und die Selbstbestimmung erst als letzten Ausweg in Betracht zieht. Die Artikelserie zeigte bewußt Ausschnitte aus der bereits Geschichte gewordenen Zeit vor 1945 auf. Damit sollte gezeigt werden, daß Südtirol genug gelitten hat und endlich die Macht jenes faschistischchauvinistischen Klüngels gebrochen werden muß, der verhindert, daß Südtirol europäisches Land ist. Vergessen wir nicht: Südtirol wartet noch auf Europa!

(Ende)

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