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Kanonikus Gamper

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Es war im vergangenen Sommer. Wir sind auf einer hohen Wiese am Ritten gelegen und haben in die Sonne geblinzelt. Da tauchte ganz plötzlich am Steilhang ein Schatten auf, ein mächtiger, großer Schatten, und mächtig und groß war auch der Schädel, der sich bald in diesem abzeichnete. Es gibt nur einen Mann im ganzen Land, dem dieser Schatten gehören kann — durchfuhr es uns —, ,,dem Kanonikus“. Und dann saß er in unserer Mitte. Die Kinder tollten herum, und wir mußten ihm viele Geschichten von ihnen erzählen, und dann sprachen wir von den Freunden und vom Urlaub und von dem Flecken Erde unter den Dolomiten, von Südtirol. Es war ein langes Gespräch. Jedes Wort des Kanonikus wog schwer — es galt. Da gab es keine Phrasen, nichts Unwahres, nichts Unechtes. Und immer waren Aug und Ohr offen für den Partner. Hinter jedem Satz, den er sprach, stand jenes gewaltige Maß von Heimatliebe, das das Leben dieses Mannes bestimmt hat, und hinter jedem Satz auch die heiße, brennende Sorge um dieses Land, das sich ihm anvertraut hatte wie einem Vater. Es war ein langes Gespräch, und als wir dem Gast das Geleite talwärts gaben, tauchte die Sonne die Dolomiten in ihr letztes Licht. Es schien uns, als hätten wir diese Berge nie so leuchten gesehen wie nach diesem Gespräch. An der Wegbiegung verabschiedeten wir uns, und dann schwiegen wir eine Weile. Wir standen so stark unter dem Eindruck der Persönlichkeit des Gastes. „Wenn man dem Kanonikus begegnet, weiß man, wie sich Gott den Menschen vorgestellt hat“, sagte dann jemand. Und irgendwie hatte jeder von uns ein Dankgebet im Herzen für diese Begegnung und dafür, daß Gott dem bedrohten Volk diesen Mann geschenkt hat.

Und nun erreicht uns die Nachricht, daß Michael Gamper am Abend des 15. April in Bozen, 71 Jahre alt, gestorben ist. Die Lippen, die ein Leben lang unbeirrt für den Glauben und die Heimat Zeugnis ablegten, haben sich geschlossen. Was dies bedeutet, kann nur der ermessen, der weiß, wie untrennbar Michael Gampers Wirken mit dem Geschick seiner Heimat verflochten war.

Dieses Wirken nahm von der Seelsorge in verschiedenen Südtiroler Gemeinden seinen Ausgang und erhielt mit der Berufung in die Redaktion des „Volksboten“ im Jahre 1919 seine endgültige Richtung. Michael Gamper begann den Weg als Journalist — und aus diesem Beruf ist ihm die Berufung erwachsen, die da hieß, Wortführer Südtirols zu sein.

Wortführer als Präsident der Verlagsanstalt Tyrolia (heute „Athesia“), deren Verdienste um das Gut der Sprache nur zu würdigen weiß, wer sich noch daran erinnert, wie völlig isoliert das Land unter dem Brenner vom geistigen Mutterland zeitweise war, Wortführer als Chefredakteur der „Dolomiten“ (früher: „Der Tiroler“, „Der Landsmann“), jener katholischen Tageszeitung, die im ganzen deutschen Sprachraum als vorbildlich angesehen wird, und Wortführer als Verfasser der großen Denkschriften, die in den Schicksalsstunden Südtirols an das Weltgewissen appellierten.

Man würde jedoch Michael Gampers Wirken nicht gerecht, würde man den „Wortführer“ hier nur als den Publizisten sehen wollen. Der Kanonikus war zeit seines Lebens auch Seelsorger Südtirols, dem das Schicksal seiner Herde mehr war als ein politisches Anliegen. So wie die Kirche den größten Wert auf die Katechese in der Muttersprache legt, so wußte auch Michael Gamper, daß die heranwachsende Generation mit dem Verlust der Muttersprache aller geistigen Güter der Heimat beraubt würde. Diese Erkenntnis hieß ihn in der Zeit der finsteren faschistischen Unterdrückung die deutschen Katakombenschulen in den Pfarren einrichten. Das Unternehmen bedeutete höchste Gefahr, aber es wahrte im Widerstand ein Menschenrecht.

Im Nationalsozialismus hatte Michael Gamper schon früh den Gegenpol zur religiösen Grundrichtung Tirols erkannt. Und als die schwerste Krise für die Existenz des Südtiroler Volkes in Gestalt des Umsiedlungsplanes der beiden Diktatoren heranreift, ist er es, der allen Gefahren und allen Anfeindungen durch Fanatiker zum Trotz in die Dörfer hinaufsteigt, um seine Landsleute von der Option abzuhalten. Die Zensur und die Unterbindung der öffentlichen Diskussion lassen ihn in diesen Tagen zu einem einsamen „Wortführer“ werden. Nie aber hat sich sein Weitblick so klar erwiesen wie in dieser Bedrängnis, und nie war er so sehr der wahre Repräsentant seiner Heimat wie auf diesem bitteren Prophetenposten.

Die Diktaturen bersten, aber der' Kanonikus,der aus dem Exil in den Kreis seiner Freunde zurückkehrt, tritt ungebrochen ein in den Kampf um das Recht der Selbstbestimmung, das die Mächte nun zum zweitenmal verweigern. Was bleibt, ist das Vertrauen auf die Verwirklichung der europäischen Idee. Diese Hoffnung ist der Tenor seiner politischen Leitartikel: „Wir alle, und zwar nicht bloß die Völker als Ganzes, sondern auch die kleinen Volksgruppen, befinden uns auf ein und demselben Schiffe, das Europa heißt. Mit diesem werden wir gerettet oder gehen zugrunde“, schreibt er im

Neujahrsartikel 1952; Mit solchen Gedanken steht. Michael Gamper picht allein, und seine Ueberzeugung findet eine Bestätigung in der Wahl zum Präsidenten der LInion europäischer Nationalitäten im Jahre 1955.

Das Jahr 1955 ist es auch, das ihm eine andere Bestätigung bringt, eine, die er geahnt, über deren Ausmaß er sich jedoch wohl keine Vorstellung gemacht haben mag. Es ist die Bestätigung der Liebe und Dankbarkeit seines Volkes. Als er am 7. Februar seinen siebzigsten Geburtstag begeht, da feiert ganz Südtirol ein Fest, wie es seinesgleichen selten gegeben hat. Bescheiden, einfach und ergriffen nimmt er die Huldigungen entgegen, und die vielen Gratulationen aus der Ferne freuen ihn vor allem als Botschaften der Verbundenheit mit Südtirol.

Ein Vorkämpfer für seine Heimat und für den Gedanken „der Heimat“ ist in die ewige Heimat abberufen worden. Ein solcher Tod bedeutet für die Zurückgebliebenen ein Auftrag. Die Zurückgebliebenen, das sind nicht nur die Tiroler, nicht nur die Oesterreicber. das sind alle, die das Recht auf die Heimat in der größeren Heimat Europa verwirklichen wollen. Dieser Gedanke darf nicht sterben, weil der Kanonikus gestorben ist. Er muß im Gedenken an ihn noch lebendiger werden.

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