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Südtirols Weg nach Europa

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SUDTIROL, EINE FRAGE DES EUROPÄISCHEN GEWISSENS. Herausgegeben von Franz Hüter, Verlag für Geschichte und Politik, Wien, 1965, 616 Seiten S 3ä0.—.

In der Einführung des Werkes berichtet der Herausgeber auch über die Entstehungsgeschichte. Auf Anregung eines amerikanischen Gelehrten sollten die Aufsätze zusammen mit italienischen Beiträgen in den USA erscheinen. Doch beschränkte sich später das Interesse des Verlages auf das Zeitgeschichtliche und so scheiterte dieses österreichisch- italienische Gespräche auf wissenschaftlicher Ebene.

Nachdem die italienischen Beiträge zu der geplanten „Disputaion“ in Rom („L’Alto Adige nei passato e nel presente“, redigiert von Carlo Bat- tisti) erschienen waren, nahm sich in höchst verdienstvoller Weise der Verlag für Geschichte und Politik des durch weitere Beiträge ergänzten Werkes an. Dem ursprünglichen Konzept aber verdanken die Arbeiten den Ton sachlicher Auseinandersetzung.

Im ersten Teil wird die Vielfalt der „historischen Voraussetzungen“ von Fachleuten, wie Hüter, Menghin, Finsterwalder, Thurnher, Frodl, Ilg und Kranzmayer bearbeitet.

„Die Entstehung des Problems“ ist das Thema des zweiten Teils. Ein einleitendes Kapitel über den italienischen Nationalismus (Gschliesser) weist auf die entscheidende Rolle Ettore Tolomeis hin, der schon vor dem ersten Weltkrieg die Italianisie- rung Südtirols zu seinem Lebensinhalt gemacht hatte. Unter besonderer Berücksichtigung Tirols erläutert Theodor Veiter die Rechtslage der Italiener in der österreichischungarischen Monarchie und gelangt zu dem Schluß, daß das alte Österreich nicht nur die Rechte der italienischen Minderheit achtete, sondern ihr auch alle Hilfen angedeihen ließ, die den Angehörigen der Mehrheit zuteil wurden. „Die Forderung Italiens nach der Brennergrenze“ wird von Hans Kinzl unter dem Aspekt des Geographischen, von Viktoria Stadlmayer hinsichtlich der sonstigen Argumentation untersucht. Während Kinzl auf die Besonderheiten des Paßlandes eingehend darlegt, daß die Wasserscheide vom wissenschaftlich-geographischen Standpunkt aus betrachtet, keine natürliche Grenze sei, setzt sich auch Viktoria Stadlmayer mit der Gestalt Tolomeis auseinander, der der Begründer des „wissenschaftlichen Anspruchs“ war; sie legt dar, zu welchen Auswirkungen die Wasserscheidentheorie und das Argument, der italienische Staat sei der Erbe des antiken Rom, konsequent angewendet, andernorts geführt hätten.

Im dritten Teil stellt Hugo Hantsch die Vorgeschichte des Eintritts Italiens in den ersten Weltkrieg als ein dramatisches Stück dar. „Italiens Politik in Südtirol 1919 bis 1945“ wird von Bernhard Schloh behandelt. Hier wird berichtet, wie das liberale Italien den Südtirolern zunächst eine weitgehende Berücksichtigung ihrer Eigenart versprach, bis dann nach seinen in Südtirol geleisteten ersten Kraftproben der Faschismus die Macht ergriff und mit der radikalsten Italianisierungspoli- tik begann. Einen sehr aufschlußreichen Beitrag bilden Winfried Schmitz-Essers Untersuchungen über die „Genesis des Südtiroler Umsiedlungsabkommens vom 23. Juni 1939“. Der Verfasser zeigt auf, daß für die Umsiedlung zwei verschiedene Konzepte Vorlagen. Italien, das die Fortführung der Achsenpolitik von der „Umsiedlung der Fremdstämmigen im Oberetsch“ abhängig machte, strebte vor allem die Eliminierung der Bevölkerung der Städte und Täler an, da eine Ersetzung der Bergbauem durch Italiener ja nicht in Frage kam. Das nationalsozialistische Deutschland aber arbeitete mit allen Mitteln auf eine Totalumsiedlung der Volksgruppe hin, welche ein nicht von Deutschen besiedeltes Gebiet (eventuell im Osten) bevölkern sollte. Mit der Ausführung des Abkommens befaßt sich Franz Hüter in seinem Beitrag „Option und Umsiedlung“. Er legt die zahlenmäßigen Ergebnisse vor, welche er auf die historischen Voraussetzungen und die Ablehnung der italienischen Fremdherrschaft zurückführt. Die Grundlagen der wirtschaftlichen Entwicklung werden von Adolf Leidlmair („Bevölkerung und Wirtschaft 1919 bis 1945“) untersucht. Der Fachmann beschäftigt sich mit der Bevölkerungsentwicklung, Nationalitätenentwicklung und -glie- derung, der Südtiroler Wirtschaft und ihren Veränderungen zwischen den beiden Kriegen, der Berufsgliederung, der Landwirtschaft und ihrem Besitzgefüge, ihrer Produktion usw.

Den vierten und letzten Teil, der den Titel „Auf dem Wege zu einer demokratischen Lösung“ trägt, leitet Herbert Miehslers Aufsatz über das

Gruber-Degasperi-Abkommen und seine Auslegung ein. Hier wird die Vorgeschichte des Abkommens, unter anderem die intensive Bemühung Österreichs um die Revision des Unrechts unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkrieges vor Augen geführt. Das wichtigste Ergebnis ist vielleicht der Nachweis, daß die Behauptung, ein die Souveränität einschränkender Vertrag müsse eng ausgelegt werden, im Hinblick auf den ausdrücklich bekundeten Vertragszweck, den Schutz des Volkscharakters und der kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung der deutschsprachigen Bevölkerung, der nicht vereitelt werden darf, keine Geltung haben kann. Felix Ermacora untersucht „Südtirol als nationales und internationales Rechtsproblem“ Er stellt das Südtirolproblem zum allgemeinen Stand der Minderheitenfrage in Beziehung und macht die Auseinandersetzungen zwischen den „imperialistisch-nationalistischzentralistischen“ Tradtionen Italiens mit dem neohumanistischen Zeitgeist und der Tiroler Überlieferung anschaulich. Viktoria Stadlmayer stellt im Anschluß daran „die Südtirolpolitik Österreichs seit Abschluß des Pariser Abkommens“ dar. Sie behandelt alle Bemühungen hinsichtlich der Durchführung des Pariser Abkommens einschließlich der Auseinandersetzung vor der UNO. Dem „deutschen Schulwesen in Südtirol seit 1945“ gilt ein weiterer Beitrag (Anton Zeiger). Er enthält einen

Überblick über die Verhandlungen um die Wiedererrichtung der deutschen Schule und einen Bericht über den Inhalt der verschiedenen Dekrete. Nach einem den ersten ergänzenden Beitrag Leidlmaiers („Bevölkerung und Wirtschaft seit 1945“) folgt das Schlußwort aus der Feder Viktoria Stadlmayers. „Südtirols Weg.“ Nach dem Rückblick auf den Kurs, den die Südtiroler Politiker unter den gegebenen Umständen steuerten, werden die Chancen aufgezeigt, die sich dem Land im Hinblick auf den Gedanken der europäischen Einigung bieten. Die Wahrung dieser Chancen und die Bewältigung der damit verbundenen Verpflichtungen Hegen, wie die Verfasserin ausführt, in den Händen der Südtiroler. Für Italien aber gilt es den Kampf mit den Waffen des neunzehnten Jahrhunderts aufzu- getoen. Der eindrucksvolle Appell klingt mit den Worten aus: „Europa wird nur Europa bleiben, wenn es in der Einheit seine Vielfalt bewahrt. Die Anliegen der Südtiraler sind also die Anliegen aller, die an die Zukunft und an die Aufgabe Europas glauben.“

Die Südtirolliteratur hat durch dieses im doppelten Sinn gewichtige Werk eine entscheidende Bereicherung erfahren. Man möchte ihm viele, sehr viel Leser wünschen, informierte und uninformierte, kühle und bewegte, nahe- und fernstehende. Hier haben Fachleute gesprochen: für Südtirol, für die Freiheit und für Europa.

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