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Wider den Zentralismus

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Claus Gatterer, der aus Sexten gebürtige Publizist, gilt seit Jahren im In- und Ausland als Südtirolexperte ersten Ranges. Nach seinem Buch über Cesare Battisti („Unter seinem. Galgen stand Österreich“), legt er nun ein umfangreiches (1478 Seiten starkes) Werk vor, in dem der Streitfall Südtirol einer isolierten Betrachtungsweise entzogen und in ein größeres Ganzes eingebaut wird. „Im Kampf gegen Rom“ befinden sich neben den Südtirolern auch die französischen Aostaner, Slowenen, Ladiner und Friauler — alle jene Minderheiten, deren Existenz ein entralistisch und nationalistisch orientierter Staat zunächst überhaupt leugnen wollte und deren Bemühung um Föderalisierung und Gewährung von Autonomien, wie Gatterers Buch, beweist, innerhalb der Geschichte eine Geschichte der Frustration und der zähen Ausdauer bildet.

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Claus Gatterer, der aus Sexten gebürtige Publizist, gilt seit Jahren im In- und Ausland als Südtirolexperte ersten Ranges. Nach seinem Buch über Cesare Battisti („Unter seinem. Galgen stand Österreich“), legt er nun ein umfangreiches (1478 Seiten starkes) Werk vor, in dem der Streitfall Südtirol einer isolierten Betrachtungsweise entzogen und in ein größeres Ganzes eingebaut wird. „Im Kampf gegen Rom“ befinden sich neben den Südtirolern auch die französischen Aostaner, Slowenen, Ladiner und Friauler — alle jene Minderheiten, deren Existenz ein entralistisch und nationalistisch orientierter Staat zunächst überhaupt leugnen wollte und deren Bemühung um Föderalisierung und Gewährung von Autonomien, wie Gatterers Buch, beweist, innerhalb der Geschichte eine Geschichte der Frustration und der zähen Ausdauer bildet.

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Im ersten Teil des Werkes wird von den „verlorenen Ideen“ des Risorgi-mento ausgehend die Entfaltung des Irredentismus (z. B. das Wirken Ettore Toiomeis) aufgezeigt, die Stellung der Italiener im alten Österreich unitersucht, die Entwicklung der politischen Parteien in Deutschtirol, im Trentino und im adriati-schen Küstenland beschrieben wie das politische Geschehen im Hintergrund des ersten Weltkrieges, so der WTeg des jungen Mussolini. Der zweite Teil umfaßt die Zeit vom Waffenstillstand bis zum Marsch auf Rom. Die Abschnitte drei und vier bieten eine Schilderung des Faschismus — besonders in sedner Auswirkung auf die Minderheiten — und der Entwicklung der Gegenströmungen. Auch eine eingehende Untersuchung der Haltung der Kirche gegenüber den Minderheiten von 1918 bis 1943 findet sich hier. Im fünften und sechsten Teil untersucht der Autor die Verhältnisse in den „Operationszonen“ Alpenvorland und Adriatisches Küstenland zunächst nach dem Sturz Mussolinis und dann nach der Kapitulation Deutschlands und befaßt sich eingehend mit dem „Fall Degasperi“. Im siebenten Teil werden Pariser Abkommen, Autonomie sowie die politische Entwicklung in und um Südtirol behandelt. Neben einer Analyse der neuerlichen Krisen in Südtirol, Aosta und Sardinien findet sich hier auch ein Kommentar zur Rückkehr Triests zu Italien. Im abschließenden achten Teil setzt sich Gatterer eingehend mit dem Neofaschismus auseinander, beleuchtet das Verhältnis des „Cen-trosinistra“ zu den Regionen, behandelt die Region Friaul-Julisch Vene-tien, die Stellung der Italiener in Jugoslawien, weist auf den „Aufbruch des Pluralismus in Südtirol“ hin und befaßt sich noch einmal mit dem Verhältnis der Kirche zur Minderheitenfrage, besonders auch mit den betreffenden Äußerungen Johannes' XXIII. Nach einem Kommentar zur gegenwärtigen Situation stellt Gatterer einen „Utopischen Katalog'“ von Normen auf, deren Erfüllung der Lösung der Minderheitenprobleme dienlich wäre. Die Po-stulate dieses Katalogs wenden sich sowohl an die Staatsnation wie an die Minderheiten selbst und setzen ein hohes Maß an politischer Reife und Abgeklärtheit auf beiden Seiten voraus. Es wäre zu wünschen, daß es nicht bei der reinen Utopie bliebe! Das Anliegen des Buches ist die „Überwindung ethnischer und regionaler Egoismen“ und die Weckung edner „umfassenden Solidarität“. Gatterers Imperativ lautet: „Jeder für sich in seinem Tal, in seiner Region, aber alle miteinander gegen Unfreiheit, Gewalt, Unterdrückung und Zentralismus“ (S. 11). Die Minderheiten wurden lange Zeit lediglich als nationale Anliegen gesehen und daher in der Publizistik immer wieder emotional-rhetorisch behandelt. Gatterer betrachtet sie unter einem demokratischen Aspekt, und von einer natürlichen Gliederung des Staates, der „wirtschaftlichen Entwicklung in natürlichen Räumen unter direkter Mitverantwortung der Betroffenen“, von der „Beteiligung der sozialen und der geographischen Peripherien am Leben der Gesellschaft“ (S. 14) erwartet er sich echte Demokratisierung.

Das Werk soll in erster Linie ein politisches Buch sein, das freilich weitgehend historiographische Züge trägt, wobei „scheinbare Randerscheinungen des politischen und gesellschaftüchen Geschehens“ (S. 10) mit Absicht in den Vordergrund gerückt wurden. Damit wurden Strömunigen, Seritäments und Ressentiments, Gruppierungen und Bemühungen unter die Lupe genommen, die bei einer schematischen Dokumentation weitgehend unberücksichtigt bleiben.

Der Autor hat ein ungeheures, zum großen Teil völlig unbekanntes Quellenmaterjal bearbeitet. Der flüssige Stil, die geradezu spannende „Erzählweise“ machen das Lesen zum Genuß. Hier hat ein Tiroler aus dem engen Tal — nach vielen Dienstjahren als außenpolitischer Redakteur — einen weiten Blick für große Zusammenhänge gewonnen. Alle, die an der Erhaltung und Selbstgestaltung der kleinen Einheiten, sprich: Heimaten, interessiert sind, müssen für dieses Buch dankbar sein, besonders weil der weite Blick hier nicht Distanz, sondern umfassendes Engagement bedeutet.

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