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Den Erbfeinden ins Stammbuch

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Die „Erbfeindschaft“ zwischen Franzosen und Angelsachsen wurde wohl schon vor dem Hundert jährigen Krieg gepflanzt und wuchert noch heute aus dem Gemäuer der Geschichte hervor. Die „Erbfeindschaft“ zwischen Deutschen und Franzosen hat ihre lange und blutige Geschichte. Beide „Erbfeindschaften“ scheinen indessen heute zumindest stillgelegt.

Ähnlich traditionsreich, geschichts-trächtig und geschichtsmächtig ist die „Erbfeindschaft“ zwischen Österreich und Italien. So trächtig und so mächtig, daß sie das „Haus Österreich“, dem sie ursprünglich galt, mit allen Unsitten und (beiderseitigem) Dünkel geradezu spielend überdauerte. Doch auch sie wurde jüngst erst eingegraben.

Erbfeindschaften, gibt's die noch? — möchte der moderne, der sich wissenschaftlich dünkende Mensch fragen und hochmütig gibt er sich selbst die Antwort, sie lautet „nein“.

Welch ein Irrtum! Erbfeindschaf t-ten erleben wir, oft in schrecklicher Übersteigerung, zumeist anachronistisch, immer aber geschürt, neu erworben und erhalten in: Irland, Nahost, Fernost, zwischen Lätein-und Nordamerika, im Westen, im Osten, da subtiler, heimlicher, dort offen, hitzig und angeheizt. Sie, die „Erbfeindschaft“, findet immer neue Nahrung und selbst dort, wo sie, gottlob, durch mühevolle, demütige oder sogar demütigende Kleinarbeit stillgelegt erscheint, schwelt sie dennoch weiter, unterirdisch zwar, aber jederzeit bereit, in aller Wildheit wieder loszubrechen. Sie ist, wie das auch Claus Gatterer sehr scharf herausarbeitet, durch Geschichte und Geschichten, durch vermeintliches Recht und durch vermeintliches Unrecht, durch ehrliche Makler und durch hintersinnige Mischer und Macher tief verwurzelt in der Psychologie der von ihr befallenen Völker, zu einem Bestandteil dessen geworden, was sie als Sinn und Rechtfertigung ihrer Geschichte verstehen, zum Volkscharakter. Was der einen Seite als hundsföttischer Verrat gilt, bedeutet der anderen einen Gegenstand nationaler Verehrung und Anlaß zu hohen Feiertagen.

Die Erbfeindschaft Italien—Österreich hat weit zurückreichende Wurzeln, manche davon sogar bis über den Dreißigjährigen Krieg hinaus. So richtig begründet wurde sie freilich erst in den fünfziger und sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts. Wurzelnd in den Traditionen der Französischen Revolution, pflanzte sie sich in Italien als Risorgimento auf. Die „nationale Einigung“, das ist historische Gewißheit, konnte nur auf Kosten der übernationalen Rolle des „Hauses Österreich“ vollzogen werden. In diesem Klima gedieh der die Massen suggestiv pro oder kontra beeinflussende Begriff der „Irredenta“.

Der „Irredentismus“ spielte denn auch sein wechselvolles Spiel am Sterbelager jenes vorweggenommenen Europamodells, dessen Verlust heute häufig von jenen besonders beklagt wird, die ihn ursächlich herbeigeführt haben. Aus (zu) frühen Nationalisten (deutschen, slawischen, italienischen, magyarischen) sind nun (zu) späte „Europäer“ geworden. Der Weg dahin mag einigen Millionen das Leben, anderen Millionen Heimat, Existenz, Glück und Ehre gekostet haben. Auf allen Seiten!

Habsburg-Österreich, das ein ganz anderes Prinzip verfocht als die Bannerträger des Risorgimento konnte nicht nachgeben. Selbst dort, wo es dazu bereit war, wenn auch mißtrauisch und halben Herzens, mußte ihm der Erfolg versagt bleiben. Gatterer berichtet sehr anschaulich von jener zögernden Bereitschaft, durch Hingabe der Lombardei die italienischen Kriege in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu vermeiden; und er berichtet von im Räume stehenden Angeboten, Italiens Neutralität im Weltkrieg durch weiteren Verzicht auf „italienische Provinzen“ zu erkaufen. Italien schlug aus und trat zuletzt aus dem Dreibund aus und in den ersten Weltkrieg gegen seine Verbündeten ein.

Das macht, weil das Risorgimento, weil der Irredentismus mehr noch als geheimdiplomatische, wenn auch zielführende Erfolge seinen Mythos brauchte. Der Mythos konnte „geschichtsmächtig“ nur durch Helden und Märtyrer — und zwar durch tote Helden und durch tote Märtyrer! — dauerhaft begründet werden. Zwischen 1915 und 1918 ließ sich Italien diesen „mythischen“ Weg zur

Einigung, die nach dem vorherrschenden Zustand der Monarchie wohl auch anders eingetreten wäre, rund 600.000 seiner Söhne, Verwüstungen und Verheerungen kosten.

Guido Zernatto, ein anderer unerschütterlicher Streiter wider den Ungeist des europäischen Nationalismus hatte sehr folgerichtig geschlossen: an irgend einer Stelle schlage der überstilisier'te Nationalismus zwangsläufig in Imperialismus um, niemand könne „nur ein bisserl schwanger sein“. So hielt er, wie vor ihm beispielsweise auch schon Grill-parzer, den Nationalismus „für die destruktivste Idee des 19. Jahrhunderts“ und legte das in seinem nachgelassenen Werk „Vom Wesen der Nation“ anschaulich dar.

Pünktlich schlugen denn auch Risorgimento und Irredentismus — wie überall anderswo, so auch in Italien — am Ende in Imperialismus um. Der „nationalen Einigung“ folgte, durch rabulistische Historiker schwach bemäntelt, die imperiale Landnahme: im slawischen Istrien, in Südtirol, später in Abessinien, zuletzt in Albanien, Griechenland und wiederum in Afrika. Auch der Schein eines legitimen Interesses blieb ungewahrt. Aus der „nationalen Befreiung“ war der „nationalistische Wille zur Macht“ und die Lust an ihr zwangsläufig hervorgegangen. So sehr, daß diese „Erbfeindschaft“ sogar die noch blutigere Wiederholung des blutigen Schauspiels im zweiten Weltkrieg überlebte.

Von deren Stillegung und ihrem sehr zu hoffenden, sehr wohl mög-liichen endgültigen Ende berichtet Gatterer wenig bis nichts. Das ist ein Mangel des Buches, woran immer er gelegen sein mag. Denn so gelesen, endet es in tiefem Pessimismus. Gatterer gründet seine Hoffnungen auf diverse, sehr vereinzelte progressive Schulversuche in Italien, auf die den Lehrstoff beiderseits säubernden Kommissionen, aber auf nicht viel mehr. Wohl schreibt er sein ganzes Buch „wider die Erbfeinde“, aber jene, die schon (oder schon immer) gegen solche anachronistische und unlogische Erbfeindschaften sind oder waren, gehen nur mäßig gestillt von der Quelle.

Das soll nichts gegen das Buch, so wie es ist, besagen. Nicht nur, daß es einen Mann zum Autor hat, der die Probleme am eigenen Leibe erfuhr (Gatterer wurde in Sexten geboren, 1924, besuchte die [italienische] Mittelschule in Brixen und studierte im einstigen „Athen Europas“, in Padua), ist dieser Autor auch des Sichtens, Wertens und — was heutzutage immer seltener wird — auch des Schreibens mächtig. Ein brillanter Autor also, der weiß, wie man einen Stoff, der schon so manchem Historiker unter der Feder vertrocknete, fesselnd und faszinierend aufbereitet, ohne die geringste Konzession an das, was man heute „Sachbuch“ nennt, also eines, das der Sache in Wahrheit aus dem Wege geht.

Gatterer zeigt sich von der Seite, die seine Freunde an ihm als einen liebenswerten Anachronismus schätzen: als „k. u. k. Sozialdemokrat“. Wie man weiß, er gehört jener un-beheimäteten Linken an, die von Demokratie und Gerechtigkeit nicht nur Reden führt, sondern auch bis zur Selbstzerstörung daran glaubt und an ihrem Glauben festhält, sogar auch gegen Linke, heimatlose wie indoktrinierte! So ist er ein unbedingter Einzelgänger mit unbedingten Anschauungen von unbedingtem Gerechtigkeitssinn — und voll warmer Verständnisinnigkei't für alles Christlich-Soziale, komme es von de Gasperi, aus Wien, Innsbruck oder Triest.

Man mag darüber steiten, ob es ERBFEINDSCHAFT, ITALIEN-der bessere Weg ist, Geschichte und ÖSTERREICH. Von Claus Gatte-Geschichtslügen am jeweils davon r er. Europa-Verlag, Wien. 236 Seibetroffenen, damit ringenden Indivi- ten. duum zu demonstrieren. Doch man streitet lieber nicht: denn Geschichte ist nicht bloß „Anschauungsunterricht“, sie ist zu einem großen Teil auch „persönliche Anschauung“, selbst unter legitimierten Historikern. Da Gatterer nicht nur das Ganze aus vielen Details formt, sondern jedes Detail belegt, geht seine Anschauung, wie persönlich sie oft auch ein mag, nicht aus dem Rauch und Nebel einer eigenartigen Geschichtsmystik hervor.

Dennoch kann man ihm nicht unbedingt folgen. Nicht dorthin, wo er den Sozialdemokraten des Habsburger-Reiches so etwas wie die redlich erworbene Lizenz auf die Versuche, das Uber-Reich doch „irgendwie“ zu erhalten, zuspricht. Tatsächlich waren viele Sozialdemokraten (so zum Beispiel Renner) von solchen Absichten beseelt. Tatsächlich aber ebensoviele auch nicht. An der Erhaltung wie an der Zertrümmerung des Modells haben sich viele Hände zusammengefunden. Eine endgültige und akzeptable, also unanfechtbare Bewertung steht wohl noch lange dahin. ,

Daß die Erbfeindschaft, gottlob, stillgelegt wurde, ja, daß in Österreich und Italien so etwas wie ein neues Gefühl für einen gemeinschaftlichen Raum von den Alpen bis hin über die Adria aufkeimt, mag bewirken, daß Gatterers Buch nicht ein donnerndes Echo beschieden ist. Bestünde die alte Erbschaft fort, wäre sie noch virulent, könnte sich der Autor vor dem Steinhagel der Anwürfe professionierter „Erbfeinde“ wohl kaum schützen. Daß dem Buch diese historische Kulisse nicht beschieden ist, ist unser aller Glück! Doch auch so sollte man es gelesen haben. Es schützt vor neuer Ansteckung und Wiederholung — und es schützt, darin so gerecht wie unparteiisch, beide Seiten! wolf In der Maur

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