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Europaisches Musterbeispiel Südtirol

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In der Einführung zu vorliegendem Buch wird Claus Gatterer als der „Begründer einer neuen Geschichtsschreibung in und um Südtirol" bezeichnet, wahrscheinlich weil der 1984 (im Alter von erst 60 Jahren) Verstorbene sein Wissen nicht nur aus Archiven, Büchern und Zeitungen hatte, sondern gleichermaßen durch Begegnungen, Gespräche mit Vertretern der Geistlichkeit, mit Bürgermeistern und Lehrern, vor allem aber, weil er die Bauern befragte, aus deren Kreisen er stammte, auch Gewerbetreibende und Arbeiter, die Straßenkehrer nicht zu vergessen. Dazu besaß er die Gabe einer Darstellung, die in seinen Kindheitserinnerungen („Schöne Welt -Böse Leut")4iicht selten dichterische Qualitäten verrät.

Das machte ihn auch zum Starjournalisten, der für „Die Zeit", für „Die Zukunft" und „II Mondo" schrieb. Auch die FURCHE" brachte immer wieder Beiträge dieses für Wahrheit und Gerechtigkeit eintretenden Mannes, der von 1961 bis 1967 in der Tageszeitung „Die Presse" die Außenpolitik betreut hat und ständiger Mitarbeiter des ORF gewesen ist.

So hat die Edition Raetia in Bozen gut daran getan, eine Auswahl von Aufsätzen und Reden Gatterers herauszubringen. Was allerdings fehlt, ist ein Sach- und Namensverzeichnis, aber schon die Inhaltsangabe des Buches versöhnt, denn sie ist auf eine breitgefächerte Darstellung des Problems Tirol und Südtirol bedacht, von der Monarchie an bis zum heutigen Tag. Da kommen die Nationalitätenprobleme vor dem Ersten Weltkrieg und während desselben genauso zur Sprache wie die Minderheitenfrage unter dem Faschismus und Nationalsozialismus und der Neubeginn nach 1945. Schließlich noch das Kapitel des „inneren Tirol", welches weit über dieses Land hinausreicht, da die Alpenvölker, wie Gatterer betont, von den piemontesischen und savoyardi-schen Berglern bis zu den Slowenen im nordöstlichen Italien, und den Krainem und Kärntnern, eine „heimliche Nation" sind, unterschiedlich zwar in den Sprachen, doch mit gleichen Gewohnheiten, der gleichen Begriffswelt und dem urdemokratischen Mitspracherecht der Bauern, die voller Eigensinn sind, voll Streitsucht, Prozeßlust, doch auch beseelt von einem Heimatgefühl, das zwar seine Freiheit und Unabhängigkeit will, zu gegenseitiger Hilfe aber bereit ist.

Das Neue seit 1918 wären für die Tiroler nicht die Italiener als solche gewesen, mit denen man ja jahrhundertelang in mehr oder minder guter Nachbarschaft lebte, sondern deren staatliches Ordnungssystem, welches der Faschismus zur Geltung zu bringen versuchte und dadurch den' schwierigen Weg zueinander nur noch erschwerte. Während man vorher dreisprachig daheim war (Deutsch, Italienisch, Ladinisch), hätten sich die bestehenden Fronten verhärtet und dadurch Schwierigkeiten mit sich gebracht. Die jüngsten Auseinandersetzungen über eine Volksabstimmung oder die Annahme des leidigen „Pakets" tiestätigen im nachhinein und eindeutig Gatterers Analyse und dessen Absicht, daß die Chance der Südtiroler in der geistigen Wiederanknüpfung am Österreichisch-Alttirolischen liege, in der bewährten Dreinationalität, die die Aussöhnung mit der eigenen Geschichte bewirkt und den Italienern die „Untergangsangst" nimmt. Denn die Hinwendung zu Österreich wäre nicht gleichzusetzen mit .Anschluß-Gelüsten", die Anwendung des Rechts auf Selbstbestimmung jedoch würde das Südtirol-Problem keineswegs lösen, sondern nur verschieben.

Silvius Magnago meinte einmal, man wäre über Südtirol zu wenig informiert. Das sei, wie Gatterer bemerkt, auch kein Wunder, da die Südtiroler mit sich selber die größten Schwierigkeiten hätten und die Österreicher deshalb deren Schwierigkeiten unso schwerer begriffen.

Gatteres Buch ist wie selten eines geeignet, das Verständnis für Land und Leute nicht nur in Tirol, sondern überall, wo es um Minderheiten geht, zu fördern. So sollte es auch, als Musterbeispiel, in viele Sprachen übersetzt werden.

AUFSÄTZE UND REDEN. Von Klaus Gatterer. Eingeführt und herausgegeben von der Michael-Gaismair-Gesellschaft. Edition Raetia, Bozen 1991. 396 Seiten, öS 460.20.

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