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Das wartend Land

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Sie haben dem Frieden und der Ordnung in Europa einen schlechten Dienst erwiesen, die nach dem ersten Weltkrieg das starke Herz Mitteleuropas, das „Land an derEtschx und im Gebirge“ entzweigerissen und einem braven, friedlichen Volk schwerstes Unrecht und bitterstes Leid zugefügt haben.

Man braucht, um sich Klarheit darüber zu verschaffen, wem man mit der Zertrümmerung der Festung Tirol diente, sich nur des Hymnus zu erinnern, den Hitler in seinem triumphierenden Epilog zu seiner Romfahrt im Frühsommer 1938 auf die Brennergrenze anstimmte. Mit der Zu- • Sicherung dieser Grenze hatte er den Bundesgenossen für seine Abenteuer gewonnen.

Die Abtrennung Südtirols ist durchaus nicht einem gewöhnlichen Gebietsverlust nach verlorenem Krieg gleichzusetzen. Vielleicht vermöchte, um einen primitiven Vergleich zu ziehen, der verbleibende Gebietsrest, wenn man die südlichen Gratschaften Englands samt London von England losrisse, immer noch England darzustellen; aber Tirol ohne seine alte Hauptstadt Meran? Tirol ohne Bozen-Gries, ohne Brixen und Klausen, ohne Bruneck und Innichen, ohne Sterzing und Gossensaß ... Tirol ohne König Laurins Rosengarten, ohne Ortler, auf dem nach des Dichters Zeugnis der rote Adler, das Wappentier des Landes, horstet, ohne die Dolomiten und ötztaler Ferner, ohne Schiern und Mendel, ohne Passeier- und Sarntal, ohne Ritten-und Prstertal... Das „Land an der Etsch und i.n Gebirge“, wie Tirols Beiname lautete, ohne Etschland? Das ist alles so undenkbar, daß man versucht wäre, nur mit einem Lächeln auf die Zumutung zu antworten, man solle daran glauben. Und doch wurde es Wirklichkeit bis heute.

Ach, „Tirol“ ohne Südtirol, das ist Hellas ohne Attika und Delphi; „Tirol“ ohne Südtirol, das ist die Schweiz ohne ihre Urkantorie; „Tirol“ ohne Südtirol, das ist Frankreich etwa ohne die Provence und ohne Orleans. „Tirol“ ohne Südtirol, das ist einfach „Tirol“ ohne Tirol. So sehr ist Tirols Landeseinheit Tirols Lebensgesetz, daß nach der Abtrennung Südtirols der Rest sofort in zwei Teile zerfiel, in Osttirol, das später auf Berliner Befehl an das Nachbarland Kärnten sich verlor, und das Gebiet nördlich vom Brenner, auf das zwar der Name Tirol überging und das doch nur ein Torso war> mit dem der Nazismus bald fertig zu werden hoffte. Mit Südtirol war die Seele Tirols dahin. Wie um sie wiederzufinden, starren die Gestalten auf dem ergreifenden Bilde des Oberinntaler Meisters „Verlorenes Land“ sehnsuchtsvollen Blickes in die Südtiroler Ferne ...

Tirol lebte in seinen gefürsteten Bistümern, deren Ruhm und ehrwürdiges Alter ihren Glanz auf das ganze Land warfen; von ihren Sitzen her empfing das Land seine kulturellen Impulse, seine geistige Prägung, seine Helden und Heldengeschlechter. Und nun war 1919 die Heimat selbst des Sandwirts von Passeier, selbst des Wirtes an der Mahr, selbst des Heldenmädchens von Spinges zur politischen Fremde geworden. Ebenso die Heimat der Minnesänger Otwald von Wolkenstein und Vintler, die mutmaßliche des Vogelweiders und so vieler Sänger, Dichter und Musiker bis herauf auf Bruder Willram. auf Mitterer und Goller. Wie viel Tiroler Künstlerruhm, gipfelnd in Namen wie Michael Pacher und Paul Troger, Franz Defregger und Albin Egger-Lienz, wieviel Gelehrtenansehen, um hur den Namen Fallmerayer zu nennen, •wanderte mit Südtirol ins Ausland! Tirols Bundesheiligtum seit den Freiheitskämpfen, das berühmte Bözener Herz-Jesu-Bild, vor dem • die Helden vor ihrem Auszuge Gelöbnisrast gehalten haben, auf fremder Erde. Ist das Urteil zu hart, wenn die Losreißung Südtirols eine Natur- und Kulturwidrigkeit genannt wird? '

Die Tiroler Landeseinheit, ein Gebilde weder des blinden Zufalls noch fürstlicher Willkür; ist naturgewachsen und von der reichen Eigenkultur und dem bei aller Vielfalt doch im Wesen einheitlichen Charakter der Bewohner bestätigt. Rhäter (Breonen), | Bajuvaren und Alemannen sind da in einem yor 1200 Jahren begonnenen Prozesse zu einer Volkseinheit zusammengewachsen, die ihresgleichen in der Welt nicht findet. Den Tiroler erkennst du in allen Weltteilen und findest du auf den ersten Blick und das erste Hinhorchen aus einem Dutzend Völkerschaften heraus. Die Zerreißung Tirols war demnach' als Dekomposition jahrhundertelangen natürlichen Ineinattderwachsens nicht staatsmännische Tat, Sondern Mißachtung der Natur.

In, Südtirol ist' Tirols Wurzel und Ursprung, sein Anfang, seine Wiege die erste Hauptstadt des Landes, der' Sitz seiner ersten Regierer, das Stammschloß seiner ersten Dynastie, das seinen Na,men auf das ganze Land übertrug, so in alle Ewigkeit seinen Anteil, nein, seine Autorschaft an der Schaffung der Landeseinheit Tirol bezeugend. Der Faschismus wußte, was er tat, wenn er, um diesen Kronzeugen wider seine Fiktionen zum Verstummen zu bringen, sofort an das Ausmerzen des Namens ging, dessen Gebrauch untersagt wurde, welchem Beispiel später der : Nazismus gegenüber Österreich nacheiferte. Mit dem Ausmerzen des Namens des Landes ging ein Vernichtungskrieg einher gegen , die urtümlichen Namen der (Städte und Dörfer, der Berge, der Flüsse und Straßen. Sogar die Namen der Familien mit den uralten Urkunden, die sie bezeugten, die Lieder der Heimat, selbst die Grabschriften fanden keine Gnade. Alles was ein Volk ausmacht, suchte man auszulöschen.

Und trotz alledem: das Bewußtsein der Landeseinheit blieb.

Vielen Völkern und weiten Gebieten Europas, Asiens und Afrikas hat man die Befreiung von Faschismus, Nazismus und Imperialismus gebracht, und an der Brennergrenze soll die Gerechtigkeit zum Stillstand kommen? Europa war gut beraten, als es den Widerstand der Tiroler gegen die Versuche, ihr Land zu zerreißen, immer wieder billigte und den Erfolg ratifizierte: 1335, 1703 und 1814. Jedesmal wurde die gefährdete oder bereits zerstörte Landeseinheit -wiederhergestellt, weil man sie als die beste und dem Frieden dienlichste Lösung der politischen Probleme im Herzen Europas erkannte. Ihr Demokraten und Freiheitsbringer der Gegenwart, gehet hin und tuet desgleichen!

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