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Kulturkrise in Tirol?

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Tirol hat sich unabhängig von der Ohnmacht der heutigen Lage in der Welt den Kontakt mit der Vergangenheit bewahrt. Gemeint ist hier das geisteskritische Tirol, das nicht behaglich auf den Lorbeeren, Andreas Hofers ausruht oder den Kopf mit der Brille der Biederkeit rückwärts gewendet hält. Denn auch solche gibt es im Lande, sogenannte Berufstiroler. Fassadenfiguren können jedoch niemals hintanhalten, daß ein Haus dahinter zerfällt.

Eine mutige Allianz geisteskritisch Eingestellter im Lande — es sind nicht nur Angehörige freier Berufe, Akademiker, Künstler, sondern auch Männer der Wirtschaft mit im Bunde — verfolgt dagegen mit Sorge, wie sich die Anzeichen einer Kulturkrise in Tirol mehren, die zwangsläufig zum Kulturverfall führen müßte. Darüber können auch die Massenaufläufe vor dem Fresko des Max Weiler in der Innsbrucker Bahnhofshalle nicht hinwegtäuschen. Hier ist wohl die Sensation vorherrschend, wenn sich ein breites Publikum plötzlich über ein Kunstwerk ereifert, wie ansonsten über ein Fußball-Länderspiel, einen Schwurgerichtsprozeß oder das Nachziehverfahren bei den Gehältern der Parlamentarier.

Vorerst drängt sich die Frage auf: Hat Tirol keinen gleichartigen Bewerber mehr, wenn es sich um die Berufung auf Stellen von kulturpolitischer oder wissenschaftlicher Bedeutung handelt?,Wir denken da an die Bestellung eines Landesschulinspektors für das Volks- und Hauptschulwesen, wobei eine an sich gewiß nicht unbedeutende pädagogische Lehrkraft aus Vorarlberg auserkoren wurde, und zwar vor einer Kommission, die sich aus alteingesessenen Experten oder Trägern einer Virilstimme zusammensetzte.

Es ist dunkel vorauszuahnen, daß auch die Vergebung der Lehrstühle für Literaturgeschichte und für Psychologie an der Innsbrucker Hochschule an Anwärter aus Vorarlberg erfolgen wird.

Jedenfalls sei nach diesen Ueberlegungen und“ Erkenntnissen eine Folgerung gezogen: Die stolze Stadt am Inn, die in ihren neuen Bauten eifersüchtig und aufdringlich ihre neue Weltsicht gegenüber anderen österreichischen Landesmetropolen zur Schau stellt, wäre vor allem und an erster Stelle berufen, das geistige Leben des Landes zu verdichten. Wenn jedoch das geistige Tirol so viele Stellungen verliert, aus denen das junge Tirol zu gestalten wäre, so scheint eine Atomspaltung im Kultur- und Geistesleben des Landes immer gefährlichere Kettenreaktionen auszulösen. Es geht ja nicht um das folkloristische Land im Gebirge, um seine Thomasmärkte, das Scheller- und Schemenlaufen, die unermüdlich paradierenden Blechmusikanten oder die mit Traktoren, Wagen und Theaterkostümen ausgestatteten historischen Festumzüge, sondern um die Sub stanz Tirols, das Oesterreich eine so stolze Zahl von Kirchenerbauern, Dichtern, Dramatikern, Musikern, Bildhauern, Forschern, Erfindern und Wissenschaftlern geschenkt hat.

Fehlbesetzungen von Kulturämtern des Landes mögen zur Krise beigetragen haben. Nicht weniger färben aber auch Fehlbesetzungen außerhalb des Landes mit einem negativen Qualitätscharakter ab, wenn zwischen diesen auswärtigen Positionen und Tirol besonders innige Wechselbeziehungen von Nutzen für beide Teile wären.

Wenn in der Tiroler Landespolitik ein Problem dauernd die Bezeichnung aktuell verdient, so ist es die Einengung des föderalistischen Prinzips durch die Wiener Zentralstellen. Auch unsere Gesetzgebung bewegt sich seit 1945 mit einer tragischen Konsequenz auf dem zentralisti-schen Geleise. Genauso unbeirrbar führt aber auch Landesrat Prof. Dr. G a m p e r den Kampf um die Landesfreiheiten, sei es, daß er sich für die Wiederherstellung der Steuerhoheit einsetzte oder sich mit aller Energie gegen die Verstaatlichung der Kraftwerke im Lande wandte. Im Landtag, in Versammlungen und in der Presse hat Gamper immer wieder Protest gegen den Vormarsch des Zentralismus erhoben. Und immer hat er dabei die Zustimmung des Volkes gefunden. Nicht so bei den selbstsüchtigen Stammtischintellektuellen, die in ihrer hochmütigen Besserwisserei in dieser wie in anderen Fragen die geistige Einheit des Landes gefährden. Dazu kommen noch manche Beamte in Behörden und Kammern, die es sich mit Rücksicht auf die dienstliche Zukunft mit den Zentralvögten in Wien nicht verderben wollen.

Es regen sich jedoch auch im Lande — und das ist ein Lichtblick — immer mehr Kräfte, die Ausmaß und unheilvolle Wirkung der Kulturkrise erkennen und aus ihrer Selbstbesinnung heraus im Verbände mit andern zur Abwehr schreiten. So kann man auch wieder hoffen ... *

Die SPOe in Tirol hat nach den Intentionen Waldbrunners auch in Tirol die Kulturoffensive anlaufen lassen. Der Zeitpunkt ist nicht schlecht gewählt, da die Arbeitnehmer, nach Sicherung der materiellen Daseinsbasis, Zeit und Aufmerksamkeit für Dinge erübrigen können, für die sie vor Jahren kein Verständnis aufgebracht hätten. Die KdF.-Programme der Sozialisten bewegen sich auf keiner seichten Ebene. Die Parteiorganisation und der Gewerkschaftsbund sind schon so eingespielt, auch hochwertigeres Kulturgut an die Masse heranzutragen. Und wenn auch nicht alle dadurch angesprochen werden, so hat man doch durch diese Veranstaltungen ein Mittel der Propaganda zur Hand, die zu gewinnen, welche durch ihre kritische Einstellung und Begabung nicht auf die Fahne der SPOe bisher geschworen haben.

Für die theoretische Renovierung des Marxismus und der Verbreitung marxistischen Gedankengutes unter den Jungakademikern sorgen wiederum Professoren. Der Ordinarius für Wirtschaftswissenschaften etwa, den enge Beziehungen mit dem sozialistischen Schweden verknüpfen, lehrt einen sehr modern anmutenden und jedenfalls gepflegten Marxismus. Ihm ist der vulgäre Ausdruck Kapital unbekannt, er kennt nur eine Wirtschaftsdämonie, die durch ihren Konjunkturcharakter Werte zerstört und Arbeitslosigkeit schafft. Die österreichische Volkswirtschaft wie überhaupt die westeuropäischen Wirtschaftsformen sind in seinen kritischen Untersuchungen keine Marktwirtschaften, sondern viel eher Machtwirtschaften. Dämonie und Macht sind also die neuen Bezeichnungen für das von Marx so angeprangerte Privatkapital, das die Menschen ausbeutet und um die Früchte ihrer Arbeit' bringt. Diese Machtwirtschaften, erklärt der Innsbrucker Nationalökonom, haben ihre Mittel zum Selbstzweck erhoben und machen den Weg zur Entpersönlichung frei. Dagegen sieht er in den Genossenschaften, insbesondere in den Konsumgenossenschaften — “der Begriff Kollektiv wird streng vermieden —, die Stabilisatoren und Pioniere der Wirtschaft, welche die Kraft der Persönlichkeit verkörpern und eine gleichmäßige Fortentwicklung der Wirtschaft ohne Erschütterung durch Krisen verbürgen. Durch Kollektiv und zentrale Planung zum Staat der Zukunft, ist der verhüllte Kern des geschilderten Lehrgebäudes.

Einen nicht ungefährlichen Beitrag zur Kul-turkrjse in Tirol leistet auch die Schwemme der Illustrierten und der „schwarzweißrot“ umbrochenen Wochenblätter aus Westdeutschland, die in allen Gaststätten, Kaffeehäusern, Friseurgeschäften und Wartezimmern dominieren. Selten, daß noch ein österreichisches Blättchen zwischen diesen Atomkanonen billigster Sensation oder den Evangelien der alten und neuen Marschierer hervorguckt. Unverkennbar sind auch die Bestrebungen, heimatliche Brauchtumsverbände für die Arbeit im „germanischen Großraum“ anzuschirren. Manchmal fühlt man sich nicht ohne Beklemmung in den Beginn der dreißiger Jahre zurückversetzt. Vorläufig noch zaghaft, aber immerhin nicht zu überhören, klingen die alten Weisen auf, die mit Getrom-mel und schrillen Pfeifen in die Mondlandschaft von 1945 führten. Fehler zu wiederholen, scheint für naive und geltungsbedürftige Leute die Lehre aus der Geschichte zu seinl

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