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Ist Südtirol ein Jammertal ?

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Die Berichtigung des italienischen Außenministers Giu-lio Andreotti, mit der Vokabel „Pangermanismus" meine er eigentlich nicht die deutsche Ostpolitik, sondern den Innsbrucker Landesfestzug vom 9. September (siehe auch FURCHE Nr. 39/84), verursachte den Tirolern einiges Kopfzerbrechen:

Was hatten die Feiern zum Gedenken an ihren Freiheitskampf im Jahre 1809 gegen Bayern und Franzosen mit den zwischen Helmut Kohl und Erich Honecker geplanten Kontakten zu tun? Und wer hat jemals die Forderung nach einer möglichst durchlässigen Brennergrenze mit der Forderung nach einem alldeutschen Staat verknüpft?

Letzteres haben nur einige vereinzelte Träumer getan, die eher Vergangenheit haben als Zukunft. Wenn alle Wahlergebnisse seit dem Krieg etwas zu bedeuten haben, dann gibt es weder in Wien noch in Bonn noch in Innsbruck noch in Bozen nennenswerte „pan-germanische" Illusionen.

Was es gibt, das sind — wenn wir sie so nennen sollen — „pan-tiroli-sche" Illusionen. Illusionen insofern, als sie die politische Wiedervereinigung Tirols nicht nur als erstrebenswert, sondern auch als in absehbarer Zeit verwirklichbar ansehen.

Diese Vorstellung hegt eine Minderheit von Tirolern (auch das ist bei Wahlen deutlich geworden). Sie wird darin von Randfiguren des deutschen und österreichischen politischen Spektrums unterstützt. Der Landesfestzug in Innsbruck bot diesen Gruppen Gelegenheit, über die geistig-kulturelle-folkloristi-sche Einheit hinaus auch die politische Einheit Tirols zu beschwören.

Dies geschah durch Spruchbänder, die sich in klarem Widerspruch zum friedvollen Geist der Veranstaltung befanden, so wie ihn Österreichs Bundespräsident Rudolf Kirchschläger interpretiert hatte. Und es geschah durch das protzige und geschmacklose Zurschaustellen einer Dornenkrone.

Damit wird dem Land an Etsch und Eisack eine Märtyrerrolle angedichtet, in der sich heute wohl nur die wenigsten Südtiroler wiedererkennen und die ihnen auch niemand abkaufen würde: der wirtschaftliche und auch politische Aufschwung Südtirols in den letzten Jahren läßt jeden Vergleich mit dem Sinnbild des höchsten Leidens Christi als blasphe-misch erscheinen.

Den ewig Unzufriedenen beider Sprachgruppen ist anscheinend der schnelle Wohlstand, den sie seit Inkrafttreten der Autonomie erlangt haben, schlecht bekommen: Unter ihnen ist geradezu ein Wettrennen entbrannt, bei dem es darum geht, zu zeigen, daß die eigene Volksgruppe zu kurz gekommen ist. Eifrig stricken sie an ihrer eigenen Märtyrerlegende beziehungsweise schwelgen im „vit-timismo" italienischer Prägung.

Würde ein Außenstehender alle Klagen über das angeblich unerträgliche Los der deutschen beziehungsweise der italienischen Volksgruppe ernst nehmen, so müßte er nichts als tiefes Mitleid für dieses Jammertal empfinden.

Die verantwortlichen Politiker kennen ihre Pappenheimer und lassen sich nicht ohne weiteres davon beeinflussen. Die sach- und kompromißbezogene politische Arbeit wird allerdings nicht leichter, wenn der italienische Außenminister und ein Gutteil der italienischen Presse den Randgruppen den Gefallen macht, sie ernster zu nehmen als die gewählten Volksvertreter.

Das nämlich ist den Randgruppen in Innsbruck gelungen: Angriffsflächen für Pauschalurteile über die Südtiroler zu liefern. Keine Rede von der angestrebten Welle der Solidarität in der „Weltöffentlichkeit"; diese war am Tag des Umzugs anderweitig beschäftigt.

Dafür verbreitet sich jetzt mehr denn je in Italien, hie und da auch in Deutschland und Österreich, eine Südtirol-Karikatur, wonach die Südtiroler angeblich zu Rassismus und Revanchismus neigen, gern vom Tiroler Stolz sprechen, aber noch lieber im Ausland um Geld betteln und schließlich ihrer Wohlhäbigkeit auch noch eine Märtyrerkrone aufsetzen.

Dies ist ein Bild, das Südtirol nicht auf sich sitzen lassen kann. Es genügt nicht, nur immer zu wiederholen, daß es nicht der Wirklichkeit entspricht, daß es eine böswillige Verzerrung ist. Der Wink mit dem Zaunpfahl, daß die Südtiroler dieses Büd noch dunkler färben könnten, wenn Rom ihnen in den letzten Punkten der Autonomiedurchführung nicht entgegenkommt, ist auch kein Trost.

Andreottis Seitenhieb auf die angeblich „pangermanischen" Erscheinungen in Innsbruck ist in Südtirol, wo man bisher mit diesem Minister recht gut ausgekommen war, nicht aufgegriffen worden. Zur Dornenkrone wurde Landeshauptmann Silvius Ma-gnago mit den Worten zitiert: „Damit kann man keine Politik machen."

Größere Sorge bereitet ihm allerdings die „Uberreaktion" der italienischen Presse. Immer häufiger berichtet sie von der angeblich zunehmenden anti-italienischen Stimmung in Südtirol, wobei zuweilen Radikale von einst zu Kronzeugen der Gegenwart aufgewertet werden. Es wäre sinnlos, wenn nicht gar kontraproduktiv, jeden einzelnen Vorwurf des Separatismus, Rassismus, Pangermanismus und was sonst noch so herumschwirrt, auf sich zu beziehen und zu beantworten.

Was die Südtiroler Medien betrifft, so scheinen sie sich heute ihrer Mitverantwortung für die politische Atmosphäre bewußter zu sein als noch vor kurzem. Die Uberschriften sowohl des deutschen als auch des italienischen Tagblattes in Bozen sind zurückhaltender, die flammenden Kommentare seltener geworden.

Sicher gebietet die Informationspflicht, auch extreme politische Aussagen wiederzugeben. Sie gebietet jedoch nicht, in der Darstellung der Extreme geradezu zu schwelgen. Denn schließlich sollen die Nachrichten ja nur in zweiter Linie „spannend" gestaltet werden. In erster Linie sollen sie Wirklichkeit widerspiegeln.

Und die Wirklichkeit besteht eben nicht nur aus hitziger politischer Polemik.

Es ist an der Zeit, daß die Medien davon abkommen, die ethnische Fragestellung in effektha-scherischer Zuspitzung in fast alle Lebensbereiche hineinzuinterpretieren, auch dorthinein, wo es sich um menschlich-allzumenschliche Sorgen und Streitigkeiten handelt, die nichts mit Politik zu tun haben.

Vieles im Leben hat nicht einmal damit zu tun, welche Sprache wir sprechen. Und vieles im Leben hat auch nichts damit zu tun, in welchem Staat wir leben. Gott sei Dank ist das so. Und Gott sei Dank lassen sich deshalb auch die meisten Bürger und auch die meisten Politiker in Südtirol nicht durch aufgeheizte nationale oder ethnische Polemik um jene Gelassenheit bringen, die zur Bewältigung sowohl des privaten als auch des politischen Alltags unerläßlich ist.

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