Aufzeichnungen derWende in Südtirol

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Neues Nachschlagewerk mit einer sorgfältigen Rekonstruktion des Autonomie-Kampfes.

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Neues Nachschlagewerk mit einer sorgfältigen Rekonstruktion des Autonomie-Kampfes.

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Vor 30 Jahren, im Herbst 1969, war es endlich soweit. Das Paket von 137 Autonomiemaßnahmen mit einem Operationskalender zu deren Durchführung war fertig geschnürt. Es war zwar nicht die erhoffte Landesautonomie, weil Südtirol doch innerhalb - wenn auch ausgehöhlten - Region Trentino-Südtirol bleiben sollte. Es war aber weit mehr als der unbefriedigende, unerträgliche Status quo. Der Südtiroler Landtag und die Südtiroler Landesverwaltung sollten ein hohes Maß an Eigenständigkeit erhalten, die vorgesehenen Maßnahmen von Italien mit Verfassungsgesetz beschlossen werden. Nun war die Südtiroler Volkspartei am Wort, um in einer historischen Landesversammlung am 22. November in Meran über Annahme oder Ablehnung des Vertragswerkes zu entscheiden.

Schlag auf Schlag Es ging Schlag auf Schlag. Ein Redner nach dem anderen betrat das Pult. Gegner und Befürworter schenkten sich keinen Punkt. Für beide Seiten war klar, daß außerordentlich Wichtiges, daß das Schicksal des Landes auf dem Spiel stand. Die Formel der Paket-Gegner war: Ablehnen, um damit die Tür für neue Forderungen aufzustoßen. Man verliere nichts von dem, was man bereits habe, wenn man zu dem vorliegenden Angebot nicht ja sage. Die Befürworter drehten genau dieses Argument um: Wenn man nein sage, sei das gesamte Paket verloren und die SVP wiederum um Jahre, wenn nicht Jahrzehnte zurückgeworfen. In der Zwischenzeit aber werde man schutzlos einem neuen italienischen Assimilierungsdruck ausgesetzt sein.

Der größte Trumpf der Befürworter war SVP-Obmann, Landeshauptmann Silvius Magnago selbst, der seit Oktober 1966 über Jahre hinweg, praktisch bis hin zur Landesversammlung mit italienischen Stellen direkt verhandelt hatte. Das brachte ihm einerseits den Vorwurf der Geheimdiplomatie ein, ermöglichte es ihm aber andererseits, dem Paragraphenwust immer neue Fußnoten anzufügen und so ein umfassendes, allerdings auch schwer überschaubares Bündel an Zugeständnissen zu erreichen, das Hoffnungen auf Selbstverwaltung machen konnte. Vor der Abstimmung verteidigte Magnago mit all seiner Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft sein Lebenswerk: "Man sagt, wir sollen weiterverhandeln. Ich habe gemolken und gemolken. Weiter ist es nicht mehr gegangen. Wenn Sie glauben, den Strick reißen lassen zu können, wird es wieder Jahrzehnte dauern, bis wir zu etwas kommen."

Am 23. November 1969 um drei Uhr früh lag das - denkbar knappe - Abstimmungsergebnis vor: 583 Ja, 492 Nein, 15 Enthaltungen. Die Entwicklung Südtirols seither hat den Befürwortern recht gegeben. Das bestätigt auch ein Zeitzeuge von Rang, Franz Widmann, der von 1957 bis zu Annahme des Paketes Mitglied der Parteileitung der SVP war und jetzt in Buchform ("Es stand nicht gut um Südtirol", Edition Raetia, Bozen) eine sorgfältige Rekonstruktion des Kampfes um die Südtiroler Autonomie von 1945 bis 1972 vorgelegt hat.

In dieser Feindarstellung der politischen Entwicklung Südtirols, die auf Basis eines umfangreichen Aktenmaterials erstellt wurde, schreibt Widmann, er selbst habe 1969 Vorbehalte gegen eine Annahme des Pakets gehabt, gebe heute aber "gerne zu, daß die Entscheidung, es anzunehmen, im Hinblick auf die europäische Entwicklung sehr richtig und realistisch war": "Das Paket hat viele Früchte getragen, die Südtiroler haben in ihrer Heimat wieder eine weitgehend gesicherte Zukunft."

Den entscheidenden Anstoß dazu habe jene politische Generation gegeben, die 1957 die Weichen für einen neuen Kurs der Südtiroler Politik stellte. Entstehung, Formierung und Durchsetzung dieses "neuen Kurses" sind Thema von Widmanns Buch, das der frühere Staatssekretär im Außenministerium und langjährige Tiroler ÖVP-Abgeordnete Ludwig Steiner bei einer Präsentation im Parlament in Wien sehr zu Recht als das "wichtigste Nachschlagewerk der politischen Geschichte Südtirols" einstufte. Über weite Strecken liest sich dieses Geschichtswerk wie ein spannender Krimi, speziell dort, wo Widmann über die Vorbereitung des 25. Mai 1957 berichtet, als an die Stelle der damaligen, in Orientierungslosigkeit erstarrten alten Parteiführung eine neue mit unverbrauchten Kräften und Silvius Magnago an der Spitze gewählt wurde.

Danach versuchte die abgelöste Führung zwar wiederholt, Magnago und die neue Mehrheit intern unter Druck zu setzen, doch gingen Magnago und seine Mannschaft mit Hilfe Österreichs konsequent den einzig verbliebenen Weg: den Auszug der SVP aus der Regionalregierung, die Ausrufung des "Los von Trient!" in der legendären Landesversammlung von Sigmundskron und die Forderung nach einer eigenen Landesautonomie durch den Weg zur UNO, wo die Südtirol-Frage von Österreich anhängig gemacht wurde.

Vor fast genau 40 Jahren tat der junge österreichische Außenminister, der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, den ersten mutigen Schritt in diese Richtung. Er sprach am 21. September 1959 in der Generalversammlung der Vereinten Nationen über Südtirol. Die italienische Verwaltungspraxis benachteilige die Südtiroler, gefährde deren "Existenz auf dem Boden ihrer Heimat". Wenn es nicht möglich sein sollte, "die Lebensbedingungen von 250.000 Menschen in einem Reich von nahezu 50 Millionen in zweiseitigen Verhandlungen in befriedigender Weise zu regeln", werde der österreichischen Regierung kein anderer Weg bleiben, als "die Vereinten Nationen zu bitten, sich mit dieser Frage zum nächstmöglichen Zeitpunkt zu befassen".

Ein dreiviertel Jahr später ließ der Ministerrat in Wien der Ankündigung von New York die Tat folgen: er ermächtigte am 29. Juni 1960 den Außenminister, "die notwendigen Schritte zu unternehmen, um bei der UNO zu beantragen, die Südtiroler Frage termingemäß in die Tagesordnung der nächsten Generalversammlung aufzunehmen". Es erforderte einiges Geschick der österreichischen Politik, das auch tatsächlich zu erreichen.

Einschaltung der UNO Bei der Formulierung der Anträge wurde Italien von vier südamerikanischen Staaten unterstützt: Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay; Österreich erhielt Sukkurs vor allem von Irland, aber auch von Ceylon, Zypern, Equador, Ghana, Indien, Jordanien, Mexiko und Dänemark sowie von Kuba und Bolivien. Letztlich gab es Einstimmigkeit. Die Vollversammlung forderte am 31. Oktober 1960 die beiden Parteien, also Österreich und Italien zu Verhandlungen auf und ließ - für den Fall, daß "innerhalb einer angemessenen Frist" "kein befriedigendes Ergebnis" erzielt würde - den Weg zu einer neuerlichen Einschaltung der UNO offen.

Tatsächlich gingen die Verhandlungen nicht voran. Statt dessen entluden sich in der "Feuernacht" vom 11. und 12. Juni 1961 Verzweiflung und Wut der von der staatlichen Italianisierungspolitik ethnisch, kulturell und wirtschaftlich bedrängten Südtiroler in Bombenanschlägen. Es folgten brutale Großeinsätze italienischer Sicherheitskräfte, Verhaftungen und Folterungen der Inhaftierten. Es folgten aber auch die Einsetzung der (inneritalienischen) 19er-Kommission und die neuerliche Einschaltung der UNO. Nicht zuletzt durch Kreiskys Klage über die Folterungen ("Die italienischen Behörden wandten die schrecklichsten Martern an. Martern, die mit dem Schlimmsten vergleichbar sind, was unter den Nazis und unter dem faschistischen Regime in Übung stand.") gelang es Österreich im November 1961, eine Resolution durchzusetzen, die Italiens Verpflichtung unterstrich, über die bloße Einsetzung der 19er-Kommission hinaus in den Verhandlungen zu wirklichen Ergebnissen zu kommen.

Das war der Beginn des zähen Verhandelns, an dessen Ende das Paket stand. Es war gewissermaßen ein schmales Licht am Ende eines langen, finsteren Tunnels. Widmann schreibt dazu in seinen Aufzeichnungen der politischen Wende in Südtirol: "Ende 1961 war noch vieles unklar. Die Arbeiten der 19er-Kommission sollten sich viel länger hinziehen, als befürchtet, die Attentate in einer nicht mehr durchschaubaren Eskalation weitergehen, staatliche Geheimdienste zu abenteuerlichen und kriminellen Methoden greifen. Aber trotzdem war in dieses so bittere, so leidvolle Jahr 1961 der Samen für die künftige Autonomie gelegt."

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