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In Südtirol viel Neues

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War 1961 diesseits und jenseits des Brenners das Jahr der Attentate, wobei in der Herz-Jesu-Nacht Bergfeuer das Zeichen zum „Los- von-Rom“ gaben, so spricht vieles dafür, daß 1971 als Jahr der Beilegung des 53 jährigen Konfliktes zwischen Österreich und Italien in die Geschichte eingehen wird. Mit der Annahme des Verfassungsgesetzes über das sogenannte Paket der italienischen Zugeständnisse an die deutschsprachigen und rätoromanischen Südtiroler durch den römischen Senat ist der Weg für eine wirkliche Freundschaft zwischen den beiden benachbarten Staaten geebnet.

Daß das Verfassungsgesetz .zum Paket der Kompetenzabtretungen an Bozen 233 Ja- und lediglich neun Neinstimmen bei zwölf Enthaltungen auf sich vereinigte, ist nicht nur von politischer, sondern auch rechtlicher Tragweite. Artikel 138 der italienischen Verfassung bestimmt, daß die Annahme eines Gesetzes in zweiter Lesung mit Zweidrittelmehrheit das Referendum zu seiner Abschaffung ausschließt. Strebt jetzt der Vatikan eine Volksbefragung zur Beseitigung der Ehescheidung in Italien an, so kann er es nur tun, weil am 1. Dezember 1969 das betreffende Gesetz lediglich ein einfaches Mehr in beiden Häusern des italienischen Parlaments erzielte.

Wer an die 20 Jahre denkt, da der Duce seine Politik der Italianisie- rung südlich der Brennerwasserscheide angesiedelter Volksgruppen durchsetzte, ist nicht erstaunt, daß es jetzt die neun Neofäschisten gewesen sind, die im Senat gegen das Verfassungsgesetz Stellung bezogen haben. Daß die Jünger Mussolinis alle bisherigen Vereinbarungen mit Österreich zur verbesserten Wahrung der Eigenständigkeit der Südtiroler sofort kündigen würden, wenn sie auf dem Rücken einer Wirtschaftskrise und über einen Staatsstreich an die Macht gelangten, versteht sich von selbst.

Angesichts der Tatsache, daß mit der parlamentarischen Verabschie dung des Verfassungsgesetzes die neunte von 18 Etappen des sogenannten Operationskalenders zur endgültigen Beilegung der Kontroverse erledigt ist, könnte man — rein formell — von der Halbzeit der Verständigung zwischen Österreich und Italien in Sachen Südtirol sprechen. Der Sache nach sind die beiden Vertragsparteien des Gruber-de-Gas- peri-Abkommens jedoch weiter. 97 von 136 Maßnahmen zur Autonomieverlegung Rom-Bozen und Trient-Bozen sind jetzt gesetzlich verankert. Am 15. November wird Bundespräsident Jonas in Rom zu einem offiziellen Staatsbesuch erwartet. Der erste Bürger Österreichs wird dann im Quirinal mit Ehren überhäuft werden, wie sie nur einem Eisenhower, Kennedy oder dem Negus zuteil wurden. Diplomaten in Rom und Wien, die lange Jahre besser die hinteren Eingänge benutzten, um in ihre Botschaften zu gelangen, werden Titel und Orden erhalten. Seit Jahren leisteten diese Damen und Herren meist im Verborgenen unermüdliche Kleinarbeit.

Seit 1875 befand sich kein österreichisches Staatsoberhaupt mehr auf italienischem Boden. Nachdem die

Wunden des Verlustes von Norditalien einigermaßen verheilt waren, begab sich Kaiser Franz Joseph damals nach Venedig. Rom kam als Treffpunkt für das Gipfeltreffen mit König Vittorio Emanuele II. nicht in Frage, weil noch keine fünf Jahre vergangen waren, seitdem Pius IX. von piemontesisch-italienischen Truppen aus dem Quirinal verjagt und in den Vatikan auf der anderen Seite des Tibers verbannt wurde. Als apostolischer Herrscher konnte es sich der Kaiser nicht leisten, den gede- mütigten Papst durch einen Rom- Besuch vor den Köpf zu stoßen.

Der Begegnung zwischen den beiden Staatsoberhäuptern und der Aussöhnung zwischen Österreich und Italien steht jetzt nicht die römische, sondern die Bozener Frage im Wege. Viele Südtiroler könnten es nicht begreifen, daß Wien und Rom über ihr Schicksal entscheiden, ohne daß Bozen ein direktes Mitspracherecht bei den Verhandlungen hätte. Nur Vertragsobjekt, nicht Vetragssubjekt zu sein, beleidigt ihr Selbstbewußtsein nach wie vor. Daß sie sich unter diesen Umständen nur bedingt an die zwischen Rom und Wien ausgehandelten Vereinbarungen gebunden fühlen, versteht sich von selbst. Diese Gemütslage ist seit Jahr und Tag die Chance Peter Brüggers, der mit seiner Politik des „Schon gut, doch was verlangen wir jetzt?" versucht, Italien zu wesentlicheren Zugeständnissen zu nötigen. Bisher wurde Brügger innerhalb der Südtiroler Volkspartei durch eine kleine Mehrheit unter Silvio Magnago in Schach gehalten. Nun bewirbt er sich aber selber um den Posten des Obmanns der Mehrheitspartei der deutschsprachigen Bevölkerung in Südtirol. Sollte es ihm gelingen, den langjährigen verdienten, aber invaliden Führer der Südtiroler Volkspartei, Magnago, in der auf den 25. November einberufenen Landesversammlung aus dem Felde zu schlagen, so zögen neue Wolken über den jetzt blauen Himmel Südtirols.

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