"Ich wollte das Projekt abschließen"

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Er habe die Gunst der Stunde genützt, so Italiens Langzeit-Ministerpräsident Giulio Andreotti. "Die Zeit war reif", meint der jetzige Senator auf Lebenszeit im Furche-Gespräch, die Vernunft habe sich immer mehr durchgesetzt.

Auf der in Rom gekauften Fahrkarte der italienischen Staatsbahnen scheint das Reiseziel in zwei Sprachen auf: Bolzano - Bozen. Eine Kleinigkeit, gewiss. Doch derartige Zugeständnisse an die Autonomie wären noch vor 20 Jahren unvorstellbar gewesen. Und dass die Italiener das heute als selbstverständlich akzeptieren, ist Ausdruck einer veränderten Geisteshaltung. Dass ein römischer Bankbeamter mir am Schalter stolz erklärt, er verbringe seinen Urlaub in Innichen, ist deutliches Symptom der veränderten Einstellung vieler Italiener zu Südtirol. Dass der Bankbeamte Innichen eher englisch ausspricht, ist da ein nebensächlicher Schönheitsfehler. Nicht, dass sie verschwunden wäre, die ewige Frage: "Fühlst du dich als Deutscher oder als Italiener?" Nicht, dass eine gewisse Skepsis über die "minoranza privilegiata" an der Nordgrenze der Republik nicht weiterleben würde. Auch die beliebten Anekdoten vieler Römer, deren italienische Bestellungen in Südtirol von einheimischen Wirten angeblich überhört werden, sind durchaus an der Tagesordnung. Doch die damit verbundene negative Grundeinstellung ist einer Anerkennung der Sonderstellung Südtirols innerhalb Italiens gewichen.

Das Terrain dafür hat auch die politische Entwicklung des letzten Jahrzehnts geebnet: die Sezessionsforderungen der Lega Nord etwa, die bei vielen Italienern Besorgnis ausgelöst haben. Die radikale Kritik von Lega-Chef Umberto Bossi am römischen Zentralismus förderte den Stimmungsumschwung ebenso wie die Entdeckung des Föderalismus durch die Rechtsregierung und die wachsenden Zugeständnisse Roms an die Regionen. Heute sind es die dem Rechtsbündnis angehörenden Gouverneure wie Formigoni (Lombardei) und Giancarlo Galan (Venetien), die immer radikalere Autonomieforderungen für ihre Regionen erheben und damit die Sonderstellung Südtirols relativieren. Längst ist das Thema Südtirol aus den Schlagzeilen der Zeitungen verschwunden, die Autonomie alltägliche Normalität geworden.

Südtirol steht für Urlaub

So sind auch zehn Jahre Streitbeilegung in Rom kein Thema. Zwar preist Europaminister Rocco Buttiglione die "beispielhafte Aussöhnung beider Länder und die tiefe Befriedigung Italiens über die Südtirol-Autonomie", doch den Begriff Südtirol verbinden die Römer nach wie vor mit Sommer- oder Winterurlaub. Das Wissen um geschichtliche oder kulturpolitische Hintergründe ist bei den meisten gering.

Zu denen, die jährlich ihren Urlaub in Südtirol verbringen, gehört auch einer, der an der Verwirklichung der Autonomie wesentlich mitbeteiligt war: Giulio Andreotti. Sieben Mal war er Ministerpräsident, drei Mal Außenminister: eine vergleichbare politische Karriere gibt es in Europa nicht. Nichts vermag die einmalige Laufbahn des prominenten Christdemokraten anschaulicher zu verdeutlichen als die Fotosammlung in seinem Büro. Fein säuberlich aufgereiht, in silbernen Rahmen, mit handgeschriebener Widmung, präsentiert er die Galerie der Mächtigen, mit denen er in einem halben Jahrhundert zu tun hatte: leicht verblasst die US-Präsidenten Eisenhower, Nixon, Ford, Carter, Reagan, die deutschen Bundeskanzler von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl. Die wichtigsten stehen in der untersten Reihe: die Päpste Pius XII., Paul VI., Johannes XXIII. und Johannes Paul II. Das größte Foto zeigt Andreottis politischen Ziehvater Alcide De Gasperi, Parteichef der Christdemokraten und erster Ministerpräsident Italiens nach dem Krieg. Die Widmung schrieb der Regierungschef vor 55 Jahren auf das Foto, als der aufstrebende Katholik Giulio Andreotti als Staatssekretär im Ministerratspräsidium erste politische Erfahrungen sammelte.

"Das Abkommen zwischen Karl Gruber und Alcide De Gasperi war von politischem Weitblick getragen", urteilt Andreotti. "Das müssen auch jene zugeben, die zunächst skeptisch waren. Trotz jahrelangen Tauziehens war es der Grundstein der Streitbeilegung." Dass bis zur endgültigen Einigung Jahrzehnte vergingen, schreibt Andreotti den damals "erhitzten Gemütern" zu: "Vielleicht bedurfte es einfach einer gewissen Entspannung, um Auswüchse des Nationalismus auf beiden Seiten zu vermeiden. Es war kein Wortspiel, wenn wir behaupteten, es handle sich beim Südtirol-Problem um eine interne Angelegenheit Italiens. Bei deren Lösung mussten die 1946 festgeschriebenen Verpflichtungen eingehalten werden." Österreichs Entscheidung, die UNO mit der Südtirol-Frage zu befassen, habe die Lösung nicht beschleunigt, meint Andreotti im Gespräch mit dem Autor. Es sei auch eine Geste zur Beruhigung der Tiroler gewesen: "De Gasperi - der aus dem Trentino stammte - erzählte mir oft von seinen Erfahrungen in Innsbruck, als die Tiroler Wien erhebliche Sorgen bereiteten".

Auch die Überzeugung einiger Historiker, erst die Anschläge der sechziger Jahre hätten Italien an den Verhandlungstisch gezwungen, bezweifelt der ehemalige Regierungschef: "Die weitgehend isolierten Terrorakte haben eine Lösung eher verzögert", glaubt Andreotti. Der Brenner habe in erster Linie Symbolwert gehabt: "Die Brennergrenze hatte schon damals ihre militärische Bedeutung verloren. Aber sie nach dem Krieg anzutasten, hätte unkontrollierbare Reaktionen ausgelöst. Millionen Italiener waren - mit Toten und Verletzten - vom Ersten Weltkrieg betroffen. Deren Reaktion zu provozieren, hätte die politische Stabilität gefährdet. Doch die Politik der gegenseitigen Verständigung eröffnete ja auch wichtige und nötige Perspektiven für die Zukunft. Die wurden mit Österreichs Beitritt zur Europäischen Union ja dann auch prompt erfüllt."

Dass Südtirol weltweit zu einem Autonomie-Modell wurde, sieht Andreotti mit Genugtuung: "Die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien lassen uns die Klugheit, die wir gezeigt haben, noch höher schätzen", erklärt der Senator auf Lebenszeit. "Wir haben vorexerziert, dass man Minderheitenkonflikte nur lösen kann, wenn man Zuständigkeiten abtritt und die Anerkennung von Sprache und Kultur gewährleistet."

Kein "Deus ex machina"

Dass die heutige Autonomie über die ursprünglichen Forderungen der Südtiroler hinausreicht, bezweifelt er. "Vielleicht waren da auch positive Erinnerung an gewisse Rechte maßgebend, die Österreich damals den Grenzregionen der Monarchie gewährt hat", meint Andreotti. Sich selbst will der 83-Jährige nicht als "Deus ex machina" bei der Lösung des Südtirolkonflikts sehen. Die Zeit sei dafür einfach reif gewesen. Sowohl in Südtirol als auch im übrigen Italien habe sich immer mehr die Vernunft durchgesetzt: "Sicher, auf dem langen Weg zu den Durchführungsbestimmungen gab es schwierige Momente", erinnert sich Andreotti. "Aber der feste Wille, zu einem Abschluss zu kommen, war immer vorhanden. Ich wollte die Autonomie 1991 unbedingt vor meinem Rücktritt als Ministerpräsident vollenden. Nicht, weil das andere nach mir nicht zu Stande gebracht hätten. Aber meine Nachfolger hätten sich vermutlich erst in all die komplexen Fragen einarbeiten müssen. So wären weitere Jahre vergangen. Der damalige SVP-Obmann Roland Riz hat diese Auffassung geteilt. Voriges Jahr habe ich in Trient an einer öffentlichen Diskussion mit Silvius Magnago teilgenommen. Da war ich froh über seine Anerkennung, die italienische Südtirol-Politik sei zufriedenstellend gewesen. Hätte er nicht zufriedenstellend ("abbastanza buona") gesagt, dann hätte er uns vielleicht einige Probleme bereitet", schmunzelt Andreotti.

Der Autor ist Italien-Korrespondent.

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