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Andreotti dankte der KPI

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Ohne ein einziges Mal von kommunistischer oder neofasohistischer Seite unterbrochen zu werdein, verlas Ministerpräsident Giulio Andreotti während 50 Minuten das Regierungsprogramm seines zweiten Kabinetts. Umringt von seinen 26 Ministern und 56 Unterstaatssekretären, betonte der Regierungschef eingangs, daß ein Ministerium danach beurteilt werden wolle, was es wirklich tut, und nicht nach irgendwelchen ihm unterschobenen Vorstellungen. Und dann präsentierte er ein Programm, das jeder Halto-linksregierung hätte zur Ehre gereichen können. Das aus Liberalen, Christdemokraten und Sozialdemokraten zusammengesetzte Kabinett möchte so schnell wie möglich die Wirtschaftskrise und das Klima der Gewalttätigkeit überwinden und den Anschluß an Europa und die Welt finden, nachdem Italien vor einem Monat noch riskierte, wegen unerfüllter VerDflichtungen auf die Anklagebank der EWG gesetzt zu werden.

Der taktisch überaus geschickt verfahrende Andreotti verfehlte nicht, bei seinem Appell zur Herstellung von Ruhe und Ordnung die Politik der „größten Linkspartei“ zu loben, die seit einem halben Jahr mit marxistisch-leninistischen Linksextremisten und Anarchisten keine gemeinsame Sache mehr gemacht und sich von deren terroristischen Anschlägen distanziert habe. Seitdem das Gespenst eines Comebacks der Faschisten am italienischen Horizont lauert, gab sich die KPI tatsächlich den Anschein einer Ordnungspartei, und sie hat es seit einem Jahr über ihre CGIL-Gewerk-schaft nicht mehr zu großen Streiks kommen lassen. Im Mailänder Kongreß bot Generalsekretär Berlin-guer die Mitarbeit der KPI auf Regierungsebene an, und im Wahlkampf vor dem 7. Mai haben die Kommunistenführer, im Vertrauen auf einen guten Ausgang, mit gemäßigten Worten und nicht mit der Aufreizung von Gefühlen um die Gunst der Wähler geworben. Heute sieht sich Andreotti, der mit seiner nur aus Ghristlichdemokraten zusammengesetzten Minderheitsregierung den relativ ruhigen Verlauf des Wahlkampfes von Seiten des Staates sicherstellte, veranlaßt, sich für das kommunistische Wohlverhalten zu bedanken.

Befürchten viele Sozialisten und Kommunisten, die neue Zentrums-ragierung wolle das Streikrecht beschränken, um die bevorstehende Erneuerung der Gesamtarbeitsverträge für 5 Millionen Arbeitnehmer bequem über die Hürden zu bringen und es nicht abermals zu einem heißen Herbst kommen zu lassen, welcher der Privatwirtschaft den Todesstoß geben könnte, so ist in Andreot-tis Regierungserklärung keine Rede von einer solchen Einengung der gewerkschaftlichen Freiheit. Der Ministerpräsident begnügte sich mit einem Aufruf an die großen Arbeit-nehmerverbände, in den kommenden Monaten Selbstkontrolle zu üben und nicht einen Geist zu wecken, dessen sie selber nicht mehr Herr werden könnten.

Einmal mehr verlegte Andreotti das Augenmerk auf den sogenannten Absentismus, auf dar, Fernbleiben einzelner und kleiner Gruppen von den Arbeitsplätzen, was Italien in den letzten Jahren mehr verlorene

Arbeitsstunden gekostet hat als sämtliche organisierte Streiks. Andreotti schlug die Einberufung einer Sonderkonferenz von Gewerkschaftsführern, privaten und öffentlichen Arbeitgebern sowie Regierungsvertretern vor, die das Phänomen dieses fortgesetzten „Indivi-dualstreiks“ studieren und gemeinsame Lösungen zu seiner Überwindung ausarbeiten sollten. Zur weiteren Ankurbelung der seit Jahren schwer in Mitleidenschaft gezogen! italienischen Wirtschaft bedarf es nach Herstellung des gegenseitigen Vertrauens auch des Einsatzes all der Lire-Millliarden, die seit langer Zeit zur Verfügung stehen, ohne von Seiten des Staates oder der Rogional-verwaitungen für den Bau von Schulen, Spitälern, Wohnungen und Straßen eingesetzt zu werden.

Zweifellos hat Andreotti im Montecitorio-Palast vor zehn Millionen Fernsehzuschauern — waren es wirklich so viele? — ein Programm verlesen, dessen Realisierung eine ganze Legislatur in Anspruch nehmen könnte. Nicht einmal die größten Optimisten rechnen jedoch damit, daß es seiner Mannschaf: gelingen könnte, fünf Jahre lang am Ruder zu bleiben. Im Senat verfügt sein Kabinett über eine Mehrheit von zwei Stimmen, die drei Südtiroler eingerechnet. Neofaschist Romuald! hat zwar angekündigt, daß 30 Neofaschisten Andreotti zu Hilfe kämen, wenn Not am Manne sei. Daß ein Zentrumskabinett mit einer rechtsextremen Rückendeckung sich lange über Wasser halten kann, darf jedoch füglich bezweifelt werden. Ebenso fraglich ist es, ob sich die Linfcssozialisten mit Andreottis Halblinksprogramm für eine fortgesetzte Stimmenthaltung ködern lassen.

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