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Parlamentocrazia ?

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Italien ist im Begriff, eine Parteiherrschaft (Partitocrazia) durch eine Parlamentsherrschaft (Parlamentocrazia) zu ersetzen. Lange Jahre hindurch machten die Regierungsparteien, allen voran die Democrazia Cristiana, das gute und schlechte Wetter. Kabinette wurden nach Lust und Laune der Parteileitungen eingesetzt und abberufen. Sie konnten es tun, weil die Regierungsparteien im Abgeordnetenhaus und im Senat über parlamentarische Mehrheiten verfügten, die auf Parteiparolen hin Dekrete und Gesetze guthießen, Kabinette über Wasser hielten oder in die Wüste schickten. Gelegentlich gingen „franchi tiratori“ (Heckenschützen) ihre eigenen Wege, doch das waren nur Schönheitsfehler der sonst wenigstens formell gut funktionierenden parlamentarischen Demokratie.

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Italien ist im Begriff, eine Parteiherrschaft (Partitocrazia) durch eine Parlamentsherrschaft (Parlamentocrazia) zu ersetzen. Lange Jahre hindurch machten die Regierungsparteien, allen voran die Democrazia Cristiana, das gute und schlechte Wetter. Kabinette wurden nach Lust und Laune der Parteileitungen eingesetzt und abberufen. Sie konnten es tun, weil die Regierungsparteien im Abgeordnetenhaus und im Senat über parlamentarische Mehrheiten verfügten, die auf Parteiparolen hin Dekrete und Gesetze guthießen, Kabinette über Wasser hielten oder in die Wüste schickten. Gelegentlich gingen „franchi tiratori“ (Heckenschützen) ihre eigenen Wege, doch das waren nur Schönheitsfehler der sonst wenigstens formell gut funktionierenden parlamentarischen Demokratie.

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Mit den Parlamentswahlen vom 20. Juni ist alles anders geworden. Die Zentrumsparteien (Christdemokraten, Republikaner, Sozialdemokraten und Liberale), die von 1948 bis 1962 regiert haben und zuerst eine große und dann immer kleinere und schließlich verschwindende parlamentarische Mehrheit (50,3 Prozent) hinter sich wußten, sind seit zwei Monaten in der Minderheit.

Damit haben die Linkssozialisten entscheidendes Gewicht bekommen. Da sie aber nach dem März-Kongreß mehr zur KPI als zur DC neigen und, wenigstens ihren Erklärungen zufolge, nichts mehr mit den Christdemokraten zu tun haben wollen, kommt vorderhand keine parlamentarische Mehrheit zustande und muß Andreotti an der Spitze eines Minderheitskabinetts regieren.

Somit kann die Democrazia Cristiana nicht mehr mit ihren „Satellitenparteien“ das Parlament vor vollendete Tatsachen stellen. Vielmehr haben das Parlament und seine Kommissionen eine Aufwertung erfahren. Statt hinter verschlossenen Türen in abgelegenen Parteilokalen — herrschaftlichen Villen in Roms Umgebung — muß fortan alles im Parlament und Sm den parlamentarischen Kammiiisionen verhandelt werden. Dort sitzen auch die Kommunisten. In 7 von 25 Kommissionen, eigentlichen Schlüsselpositionen, haben sie sogar den Vorsitz inne. Und können Andreottiis Ministerien nicht nur überwachen, sondern in den Griff nehmen und da und dort geradezu ausbooten. Das 1971 mit kommunistischer Unterstützung eingeführte Reglement gibt den parlamentarischen KommSsdonen zusätzliche Befugnisse und stempelt sie für den Fall eines Mnderheitsfcabinetts zu einer Art von „Gegenministerien“, die von den eigentlichen Ministerien jederzeit einen schriftlichen Bescheid über die Durchfüh-verlangen können.

In einem zwanzigseitigen Dokument macht Flaminio Piccoli, Sprecher der Christdemokraten, seine Parteifreunde auf all die Schwierigkeiten aufmerksam, die der chirist-demokratischen Regierung und der Democrazia Cristiana aus der Tätigkeit gewisser parlamentarischer Kommissionen erwachsen werden. Die christdemokratischen Kommis-sionsmitglieder werden aufgefordert,

immer an den Sitzungen teilzunehmen, um nicht mehr als nötig in Minderheit versetzt zu werden. Mitte September findet ein Seminar statt, bei dem die DC-Parlamentarier lernen sollen, sich auch in der Opposition zu bewähren und sich dem Gegner anzupassen, ohne die ganze Macht aus den Händen au verlieren. Sollten alle Stricke reißen, könnte man immer noch über Neuwahlen ein Comeback anstreben. Noch mehr Wähler ließen sich mit dem Schreckgespenst einer KPI-Machtergreifung verängstigen, und Auslandsdarlehen von Westen und Norden erhält ja nur eine italienische Regierung, in der die Kommunisten keinen bestimmenden Einfluß ausüben.

Bevor Parlamentarier und Minister in die mehr oder weniger langen

Ferragostoferien verreisten, mußten sie sich von der neu gewählten republikanischen Abgeordneten Susanna Agnelli, der Schwester des Fiat-Königs Giovanni Agnelli, einiges sagen lassen. Entsprechend ihrer angelsächsischen Erziehung, tat Signora Fiat dies aber nicht mit schönen Worten, sondern mit vorbildlichen Taten. Als einzige wohnte sie, neben Andreotti, der ganzen Vertrauensdebatte bei. Während aber der Ministerpräsident dazu verpflichtet war, tat sie es aus freien Stücken und gegen die Gepflogenheiten der anderen Parlamentarier, die regelmäßig zugegen sind, wenn einer aus den gleichen Reihen spricht, während sie sonst durch Abwesenheit glänzen. Mit ihrer Präsenz gab Susanha zu verstehen, daß es unhöflich und überdies sinnlos ist, den eigenen Parteifreunden zuzuhören, deren Erklärungen man ja bereits kennt, nicht aber den Gegnern, die einem etwas neues zu sagen haben.

Die unverblümte Rede der linkskommunistischen Abgeordneten Lu-ciana Castellina fiel auf eisiges Schweigen der wenigen im Saal von Montecitorino verbliebenen Parlamentarier. Nur Susanna spendete Beifall, zum Mißvergnügen ihrer republikanischen Parteifreunde. Zur Rede gestellt, meinte Signora Fiat: „Es war eine gute Rede, vor allem deshalb, weil sie kurz ausfiel, wie übrigens die Ansprachen aller Frauen in diesem Saale. Die Frauen haben den Männern damit elfte kleine Lektion erteilt. Die meisten Männer verdecken ihre Gedankenleere mit einem Schwall von Worten.“ Susanna stimmte jedoch Andreotti zu, als dieser den immer laut redenden, doch selten klar denkenden Feministinnen die Maxime des altgriechischen Denkers Sophokles mit auf den Weg gab: „Bei gewissen Gelegenheiten ziehen die Frauen gerade mit Schweigen größte Aufmerksamkeit und Bewunderung auf sich.“ >

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