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Fahrt ins Ungewisse

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Die einzigen, die den zwei Wahlen im Juni - am 3. und 4. Juni zum Parlament (Kammer und Senat) sowie am 10. Juni zum Europäischen Parlament - in freudiger Gelassenheit entgegensehen, sind die Schüler, werden sie doch schon am 31. Mai in lange Ferien (bis in den Herbst) geschickt, damit in den Klassenzimmern die Urnen aufgestellt werden können. Den nahezu 42 Millionen Wählern wie den kandidierenden Politikern stellen sich diese beiden Wahlen als eine bange Fahrt ins Ungewisse dar - eine Reise mit unbekanntem Ziel, die durch Gewitterlandschaft führt.

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Die einzigen, die den zwei Wahlen im Juni - am 3. und 4. Juni zum Parlament (Kammer und Senat) sowie am 10. Juni zum Europäischen Parlament - in freudiger Gelassenheit entgegensehen, sind die Schüler, werden sie doch schon am 31. Mai in lange Ferien (bis in den Herbst) geschickt, damit in den Klassenzimmern die Urnen aufgestellt werden können. Den nahezu 42 Millionen Wählern wie den kandidierenden Politikern stellen sich diese beiden Wahlen als eine bange Fahrt ins Ungewisse dar - eine Reise mit unbekanntem Ziel, die durch Gewitterlandschaft führt.

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Der Zerfall der am 16. März 1978, dem Tag der Entführung Aldo Moros im Zeichen des „Nationalen Notstands“ formierten „Großen Koalition der demokratischen Solidarität“ (DC, Sozialisten, Sozialdemokraten und Republikaner unter Duldung durch die KPI) und die vorzeitige Auflösung des Parlaments, beides provoziert von den Kommunisten, haben die durchaus nicht erfolglose Tätigkeit einer DC-Regierung lahmgelegt, die mit taktischem Geschick und behutsamer Zielstrebigkeit die begrenzten Chancen genutzt hatte: Durchsetzung einer vorsichtigen „Austerity“-Politik, geordnetes Gespräch mit den Gewerkschaften, Erholung der Wirtschaft, Aktivierung der Zahlungsbilanz, Abbremsung der Inflation, Wiederherstellung der Kreditfähigkeit Italiens, Bekämpfung des politischen Terrorismus.

Die von den Kommunisten im März 1979 ausgelöste Krise setzt das Erreichte neuerlich aufs Spiel. Wilde Streiks, Hinaufschnellen der Inflationsraten und eine Welle politischer Gewaltakte bezeugen, welche Gefahren das politische Vakuum einer regierungslosen Zeit erneut heraufbeschwört.

Die Parlamentswahlen im Juni aber, auf die nun alle Jetons gesetzt werden, lassen weder überraschende Ergebnisse noch eindeutige unbestrittene Auswege aus der Krise erwarten.

Die Prognosen sagen der DC als der antikommunistischen „Sammlung“ einige Stimmengewinne auf Kosten der „bürgerlichen“ Kleinparteien und damit abermals die relative, aber keineswegs eine absolute Mehrheit voraus. Die Kommunisten dürften leichte Einbußen gegenüber den Parlamentswahlen 1976, aber keinen Niedergang erleiden. Den Sozialisten wird ein Anteil von höchstens 11 bis 12 Prozent (1976: 9,6 Prozent), aber kein durchschlagender Erfolg vorausgesagt: Begrenzte Verschiebungen also, die“ noch keine Lösung bringen.

Da so das Spiel offen bleibt, weiß der italienische Wähler in Wirklichkeit nicht, welche Koalition die Par-

„Die Prognosen sagen der DC als der antikommunistischen ,Sammlung' einige Stimmengewinne auf Kosten 'der bürgerlichen' Kleinparteien ... voraus' tei, für die er sich jeweils entscheidet, eingehen wird und muß, welchen Kurs sie in der Regierung oder in der Opposition zu steuern gedenkt, welchen Kandidaten sie als Regierungschef präsentiert.

Geschwunden sind auch die von den demokratischen Parteien gehegten Hoffnungen, die Europawahlen könnten sich als „europäisches Korrektiv“ ausirken, also zu einer „Re-dimensionierung“ des kommunistischen Stimmenanteils hin zu den Proportionen im übrigen EG-Europa führen. Da diese „Europawahlen“ aber nun eine Woche nach den Parlamentswahlen stattfinden, ist kaum anzunehmen, daß Italiens Wähler großes Interesse zeigen, sich zwei Wochenenden hintereinander in die mangelung anderer praktikabler Lösungen fortsetzte, hat bei allen politischen Kräften Italiens die Uhr wieder zurückgedreht.

Die Democristiani fanden nach dem Schock der Parlamentswahlen 1976, welche ihre relative Mehrheit ernstlich gefährdeten und die vom kommunistischen Vormarsch eingeschüchterten Verbündeten (Sozialisten, Sozialdemokraten, Republikaner und Liberale) von einer Koalition mit den Christdemokraten gegen

„Aber auf dem Wege von dem einen auf das andere Ufer blieb KPl-Generalsekretär Enrico Berlinguer mitten in der Furt stecken“ eine KP-Opposition zurückscheuen ließen, unter Generalsekretär Zacca-gnini die Kraft zu einem moralischen und organisatorischen Aufschwung, der das gefährliche Experiment des „Notstandsbündnisses“ mit den Kommunisten vor weltanschaulichen Einbrüchen und vor Neigungen zu resignierter Selbstaufgabe bewahrte.

Die „Testwahlen“ des Mai 1978 in 815 Gemeinden, wenige Tage nach der Ermordung Moros, bestätigten einen Vertrauensgewinn der DC, deren Anteil an den rund 3,4 Millionen Wählerstimmen auf 42,7 Prozent stieg, während die Kommunisten auf 26,4 Prozent absanken.

Aber fern sind heute die Tage dieser Aufbruchsstimmung. Die „große Linie“ hat sich im Gestrüpp des tagespolitischen Taktierens einer jeglicher Erpressung ausgesetzten Regierung ohne dauerhafte Mehrheit verloren. Die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Gruppen und deren Repräsentanten innerhalb der DC haben die Begeisterung vor allem der jungen Christdemokraten erstickt. Generalsekretär Zaccagnini, der die seelische Erschütterung über die Ermordung Moros nie überwunden hat, ist durch ein alle Gruppen der DC umfassendes „Büro des Sekretariats“ faktisch entmachtet.

Die Kommunisten wieder gaben sich nach den Wahlen 1976 den Anschein, zum friedlichen „Langen Marsch durch die demokratischen Institutionen“ bereit zu sein, zur ideologischen und organisatorischen Revision im Sinne des „Eurokommunismus“ und des „Historischen Kompromisses“, zur Abwerfung marxistisch-leninistischen Ballastes.

Aber auf dem Wege von dem einen auf das andere Ufer blieb KPI-Gene-ralsekretär Enrico Berlinguer „mitten in der Furt“ stecken: Das Unbehagen unter den eigenen Anhängern über den Zwang, aus taktischen Notwendigkeiten der Regierung einer zuvor als „Erbfeind“ befehdeten DC Schützenhilfe bei einer opferreichen „Austerity“-Politik leisten zu müssen, ohne selbst der Regierung anzugehören, wuchs bedrohlich an.

Die Einbußen bei den „Testwahlen“ 1978 nährten im Fußvolk der Partei den alteingewurzelten Vorbehalt gegen die „bürgerliche Demokratie“ sowie Zweifel an der Erfolgs-trächtigkeit des Rezepts Berlinguer. In ihren Stellungnahmen zu den Konflikten in Asien, im Nahen Osten und in Afrika bezog die KPI-Führung über merkbaren Druck Moskaus (und des weiterhin sehr starken moskautreuen Anhangs im Funktionärkader) stets unkritisch die sowjetischen Positionen.

Wollte Berlinguer Ende März 1979 nicht mit leeren Händen vor den XV. Parteitag treten, so mußte er die Flucht nach vorne antreten, die sich in Wahrheit als „geordneter Rückzug“ auf das 1976 verlassene Ufer der „totalen Opposition“ erwies.

Erst in seinem Schlußwort deutete der KP-Chef an, daß der Rückzug auf die harte Linie als Auftakt zum Generalangriff auf die Regierungsbastion zu verstehen sei und nicht die Möglichkeiten künftigen Taktierens versperren dürfe. Denn: Berlinguer möchte die DC zwingen, die Kommunisten „freiwillig“ in die Regierung zu holen, will aber (vorläufig) keine Koalition ohne DC. Nach seinem Konzept ist der DC die Rolle zugedacht, einem kommunistischen Einzug ins Kabinett international ebenso wie gegenüber der antikommunistischen Wählerschaft Italiens Flankenschutz zu gewähren.

Noch schwerer als der verunsicherte kommunistische hat es der sozialistische Wähler. Die Sozialistische Partei Italiens (PSI) wird seit nun über drei Jahrzehnten vom Zwiespalt ihrer beiden „Seelen“ aufgerieben, von denen sich die eine mit den Kommunisten und den „sozialistischen Gemeinsamkeiten“ verbunden und die andere von der westeuropäischen Sozialdemokratie angezogen fühlt.

Unter der Führung des überaus aktiven und organisationstüchtigen Generalsekretärs Craxi schien die Partei 1978 im Aufwind: Seine harte

Auseinandersetzung mit den Kommunisten über die Unvereinbarkeit zwischen Leninismus und freiheitlichem Sozialismus löste die PSI aus dem ideologischen Bannkreis der Kommunisten, seine eigenständige und pragmatische Politik brachte ihm Prestigeerfolge - Stimmengewinne bei den „Testwahlen“ 1978 (rund 13,5 Prozent gegenüber den 9,6 Prozent bei den Parlamentswahlen 1976) und die Wahl des Sozialisten Pertini zum Staatspräsidenten.

Die ursprünglichen Prognosen ließen abschätzen, daß die Sozialisten bei den „Europawahlen“ auf über 20 Prozent ansteigen würden - auf Kosten vor allem der Kommunisten. Craxis verzweifelte Bemühungen, eine Verschiebung der Parlamentswahlen bis Herbst 1979 oder wenigstens deren Zusammenlegung mit den „Europawahlen“ am 10. Juni zu erreichen, scheiterten an verfassungsrechtlichen Bedenken ebenso wie an der Taktik der KPI, die „Europawahlen“ abzuwerten.

Die kleinen „Meinungsparteien“ der Liberalen, der Republikaner, der Sozialdemokraten und der „Nationaldemokraten“ schließlich, die sich von vornherein nur als Anhängsel möglicher Koalitionen, aber kaum je als bestimmende Kraft bei Regierungsbildungen den Wählern zu präsentieren vermögen, fürchten nicht ohne Grund, im Ringen zwischen den beiden „Kolossen“ DC und KPI noch mehr aufgerieben zu werden.

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