6777463-1969_28_01.jpg
Digital In Arbeit

Italiens Weg in die Anarchie

Werbung
Werbung
Werbung

29 Regierungen haben Italien seit 1945 zu regieren versucht. Auch die letzte scheiterte am letzten Wochenende, dem heiße Wochen vorausgegangen waren. Das Chaos droht jetzt unausbleiblich. Italiens Partnerschaft an einem europäischen „Ausgleich der Vernunft“ ist fraglich geworden. Seit Anfang 1969 registrierte die italienische Polizei mehr als hundert Bomben- oder Sprengstoffansehläge von Palermo bis zur Brennergrenze. Waren die „Dinamitari“ noch vor wenigen Jahren auf Südtirol beschränkt und konnte man sich ausrechnen, wairum dort Irregeleitete Mäste hochgehen ließen, sind es nun Anarchisten von rechts und links, die die. Institution des italienischen Staates ziu untergraben versuchen. Im April explodierte in einem Pavillon der Mailänder Messe eine Bombe; gleichzeitig gingen in einer Bankfiliale des Mailänder Hauptbahn-hofes Dynamitpatronen los. In Verona war vor einer landwirtschaftlichen Verwaltungsstelle eine Bombe explodiert, in Palermo legten Unbekannte ein Sprengstoffpaket vor eine Polizeistation, in Messina gab es Verletzte in einer Zeitungsredak-tion, in Oatanzaro war eine Kaserne und in Vibo Valentia eine Kirche Ziel eines Anschlags. In Battipaglia kam es zu einem regelrechten Volksauf-standi als die Polizei zwei Demonstranten erschoß, die gegen die Arbeitslosigkeit protestierten. Täglich detonieren in Italiens einem vorrangigen Fremdenverkehrszentrum Buropas, die Bomben. Und zum Einstand der Reisesaison probten die Arbeiter in Turin, dem hochindustrialisierten, reichen Nordwesten Italiens, den Aufstand. Am Wohnungsproblem entzündeten sich die Emotionen, durch spektakuläre Agitation von Anarchisten (die in Italien eine einsame Tradition bis in unsere Zeit haben), Maoisten und Berufsprotestiierern eskalierte ein Sozialkonflifct zu einem Nationalkonflikt. <ä Die Spaltung der Sozialisten, die den Sturz der Koalitionsregierung unter dem Christdemokraten Rumor auslöste, geht in ihren Wurzeln auf die Hilflosigkeit des demokratischen Regierungsstils zurück, mit den Flanken der Parteien fertig zu werden. Die Sozialisten hatten in ihren zwei Flügeln schon immer zwischen den Axiomen einer linken, antimarxisti-schen Volkspartei und einer radikaleren prokommunistischen Klassenpartei geschwankt. Die zweite Spaltung der PSI (die erste erfolgte 1947), macht sie für weitere Aktionen unfähig, denn jede der neuen Partei-gruppierüngien ist für sich zu schwach, irgendeine ernsthafte Regierungsbildung zu ermöglichen. Aber den Democristiani geht es nicht viel besser. Der letzte Parteitag der DC brachte die Partei knapp an den Rand der Spaltung. In der DC existieren auch Richtungen: Da gibt es die Gruppe der Unternehmer, die Mitte der „Doroteer“ und die Linke aus Linkskatholiken und Gewerkschaftern unter der neuen Führerschaft des früheren Ministerpräsidenten Moro. Auch in der DC geht es darum, ob man die zentrifugalen Kräfte im Land binden und durch tiefgreifende Sozialraformen Sprengstoff entschärfen kann. Denn die soziale Frage ist neben der Ungezügeltheilt des romanischen Temperaments 'nach wie vor ein satter Nährboden der sich breit-

machenden Anarchie. 700.000 Italiener sind arbeitslos, zwei Millionen unterbeschäftigt. Das Sozialgefälle von Nord nach Süd ist im wesentlichen geblieben, und obwohl sich das Nationalprodukt ebenso sprunghaft vermehrte wie Italiens wirtschaftliche Präsenz auf den Weltmärkten, ist das „Oben“ und „Unten“ kraß und schreiend. Der kleine Fiat, den sich der Fabrikarbeiter heute durchwegs leisten kann, hat die soziale Auseinandersetzung nicht gemildert. Wohnungselend und Bürokratismus sind neben einer überalte-ten Schul- und Standesorganisation geblieben. Ein deutsches Magazin berichtet, daß das Projekt des Neubaus einer Schule in Italien durch die Hände von 3166 „Sachbearbeitern“ gehen muß, um verwirklicht zu werden.

So sind vor allem die jungen Menschen in den Industriezentren der Poebene, in den Bergdörfern der Abruzzen, der Küsten von Sizilien und in Rom mdit der Repräsentation des Staates und seinen überholten Erecheinungsformen nicht mehr einverstanden. Der „ExzeHenz“-Titel für Intrigante, parteiegoistische Minister wechsetader Drei-Wochen-Kabinette ist ebenso anachronistisch wie die Titulatur in den Ämtern und Provinzen.

Wer aber die Butter vom Brot der zerstrittenen demokratischen Parteien holen wird, ist offensichtlich. Italiens KP hat sich international in die Führungsrolie der westlichen kommunistischen Parteien gedrängt. Sie ist unverbraucht und konnte mangels Regierungsverantwortung keine Fehler begehen. Kommunistische Bürgermeister haben in einigen größeren Städten ausgezeichnete kommunialpolitische Arbeit geleistet — und dorrt; bewiesen, daß der „Spaghettikomimiunismus“ auch mit anderen Parteien zusammenarbeiten kann.

So ist es kein Wunder, wenn sich die linken Flügel der Sozialisten und der DC vorsichtig immer weiter ganz nach links öffnen. Denn auch bei den Christdemokraten hat es schon bisher an Versuchen nicht gefehlt, geheime Brücken zur KPI zu schlagen. Kommt es aber zu einer Regierungsbeteiligung unter Einschluß der Kommunisten, ist jetzt schon klar, was eintreten müßte: sowohl der linke Flügel der DC als auch die neue sozialistische Partei „links vom Zentrum“ wären angesichts mangelnder Rückendeckung viel zu schwach, der geschlossenen Front der zweitgrößten Partei Italiens widerstehen zu können. So wäre eine Volksdemokratie am Tiber dann nicht mehr länger ein utopischer Albtraum.

So ist Italien am Rande des nationalen Chaos. Das Beispiel mit Frankreichs blutigem Mai 1968 drängt sich auf. Doch in Italien fehlt heute eine Persönlichkeit von der Legitimität eines de Gaule, die Ruhe und Ordnung versprechen kann. Und Beobachter halten die Latenz der Zustände in Italien für unheilbarer als in Frankreich; so etwa der britische „New Statesman“, der Italiens Gegenwart mit den Zuständen in Spanien vor Ausbruch des Bürgerkrieges vergleicht.

Und selbst die Italiener sind nicht mehr optimistisch: „Wir sind überzeugt, daß der italienische Staat fast nicht mehr existiert“ (die Mailänder Wochenzeitung „Gante“).

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung