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Anarchie und Spaghetti

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Fünf Generalstreiks mit großer Lähmung der italienischen Wirtschaft hatte es in den letzten zehn Jahren gegeben, drei davon allein im heurigen Jahr. Der dritte dieser Serie, der am 19. November das Land in seinen wirtschaftlichen Grundfesten erneut erschütterte, war der erste Totalstreik, den Italien überhaupt erlebt hat. Mehr als 15 Millionen nahmen diesmal am „sciopero“ teil. Das bedeutet auch für die keineswegs streikungewohnten Italiener einen neuen Rekord.

Während nämlich früher Generalstreiks auf Industrie und Handel, Handwerk und Landwirtschaft sowie den öffentlichen Dienst beschränkt blieben, machte diesmal die Arbeitsruhe und der Aufstand nicht einmal vor Bars und Restaurants und bei Kinos halt. Hatte man sich über italienische Streiks bisher gerne etwas lustig gemacht und festgestellt, daß —in Italien Demonstrationen ebenso wie die Kirchen von 12 bis 3 Uhr geschlossen bleiben und.Pause machten, so konnten diesmal die Unruhen nicht einmal durch die mittäglich vollen Spaghettitöpfe beruhigt werden. Staatliche Gewalt und verhandlungstaktische Maßnahmen von Seiten der Unternehmer waren dieser herbstlichen Krise, die immer mehr zur Anarchie wird, ohnehin nicht mehr Herr geworden. Was sich im vorigen Herbst angekündigt hatte, als italienische Studenten damals noch relativ harmlose Unruhen starteten, indem sie vor ausländischen Botschaften und inländischen offiziellen Stellen demonstrierten, und Galaabende der Mailänder Scala und anderer Opernhäuser dadurch störten, daß sie das festlich gekleidete Publikum mit gezielten Tomatenwürfen belästigten, wurden die Unruhen im heurigen

Jahr zu einer Anarchie wie sie Italien in der bisherigen Geschichte noch nicht erlebt hat

Und gerade jetzt, da dieses Italien eine ordnende starke Regierung der nationalen Einheit oder zumindestens eine breite Mehrheit im Senat brauchen würde, hat das Land eine Minderheiteinregierung, deren Spitzenmann Ministerpräsident Manano Rumor heute bereits nicht nur von der extremen Rechten, sondern auch aus den eigenen Reihen sowie aus dem Lager der Sozialisten als zu schwach bezeichnet wird. Italiens Wirtschaft war nämlich vor dieser Streikwelle so aufschwungsreich wie schon lange nicht und die Lira zählte zu einem Zeitpunkt, da Franc und Pfund nach wie vor wackelten, erstmals zu den harten und aufwertungsverdächtigen Währungen. Daß es aber trotz dieser wirtschaftlich günstigen Lage zu den harten Auseinandersetzungen kam, daran. sind nach Meinung der italienischen Wirtschaftsfachleute und Politiker nicht nur ökonomische, sondern auch politische Faktoren schuld.

• So hatte man von Seiten der De- mocristianį den Arbeitern versprochen, das Sozialprodukt werde um 6,8 Prozent wachsen, tatsächlich blieb es aber bei 4,5 Prozent.

• Die Unternehmer versprachen den Arbeitern immer wieder eine Erhöhung der Löhne und Gehälter; bei einer starken Ausweitung aber in der industriellen Produktion hielten die Löhne mit dieser Produktionsentwicklung keineswegs Schritt.

• Und schließlich als letzter wirtschaftlicher Faktor war auch noch die Wohnungsbaupolitik zum Gegenstand der Proteste der italienischen Gewerkschaften geworden. Während nämlich die Baupreise durch die Entstehung von Luxus- und Appartementwohnungen in ganz Italien hinaufgetrieben wurden, so daß rund 200.000 Wohnungen leer standen, ist es der Regierung mit ihrem Sozialwohnungsbauprogramm weder gelungen, den Wohnungsbedarf, der in den Elendsquartieren Hausenden zu befriedigen noch wirklich annehmbare Mietpreise zu garantieren.

Wie sehr allerdings nicht nur wirtschaftliche Gründe für die Unruhe, die im Herbst 1969 die italienische Republik hinwegzuschwemmen droht, maßgebend sind, zeigt, daß sich die Gewerkschaften keineswegs damit begnügten, mit den Sozialpartnern zu verhandeln, sondern daß sie nach nur kurzen Gesprächen sofort die bis heute andauernden Streiks fördern. Daß sie zu dieser Radikalisierung schreiten mußten, und daß auch die KPI. ihr langgepflegtes Image als regierungsfähige Partei nunmehr zumindestens für kurze Zeit über Bord werfen mußte, ist wohl darauf zurückzuführen, daß beide befürchten müssen, von radikalen Studentengruppen, Linksintellektuellen und radikalisierten Betriebsorganisationen, die sich als Maoisten zusammengeschlossen haben, links überholt zu werden.

Wie sehr hier politische Elemente wirtschaftliche Gegebenheiten in den Schatten stellten, zeigte wohl am deutlichsten die Tatsache, daß auch die Arbeiter jener norditalienischen Betriebe wie Fiat, Pirelli und Olivetti, die heute bereits als sozial fortschrittlich gelten und wo die Arbeiter gut bezahlt werden und schöne Wohnungen haben, keineswegs von derartigen Unruhen verschont blieben. „Bella Italia“ präsentiert sich jedenfalls 1969 vor blutigrotem Hintergrund.

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