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Das prolongierte Chaos

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Sah es immerhin vor wenigen Wochen noch so aus, als hätten die Gewerkschaften und Studentenorganisationen aus der Erfahrung der anarchischen Zustände des letzten Jahres gelernt, so mußte man zur Kenntnis nehmen, daß bereits in der erhofften Erholungsphase neue Streiks Italiens Wirtschaft hemmen. Italien war seinerzeit das wirtschaftlich weitaus schwächste Land der EWG. Es fehlten Grundstoffe, es mangelte an Energie, und vor allem war jene wirtschaftliche und soziale Infrastruktur nicht vorhanden, die eine Nation zur hochentwickelten Industrienation macht. Dann wurden durch das große Wirtschaftswunder in den Jahren 1960 bis 1963 in überraschend harter Arbeit jene Grundlagen geschaffen, von denen Italien heute noch zehrt. Wenn damals das Land auf der Appenninenhalbinsel in die Reihe der Großen unter den Industrienationen Einzug hielt, so droht das Italien der siebziger Jahre diese Position zu verlieren. Bereits 1964 kam der erste Rückschlag. Hatte Italien nämlich bisher mit niedrigen Löhnen seine Wettbewerbsfähigkeit erkauft, so kam es nun zu enormen Lohnforderungen, die den Nachholbedarf in diesem Land zu Tage brachten.

Nochmals kam dann der Boom: 1968 zeigte das Wirtschaftsbarometer wieder eine stark aufwärts strebende Tendenz, aber diesmal ließen die Lohnforderungen nicht mehr lange auf sich warten, und so erreichte der Zuwachs nicht jene Höhe wie zu Anfang der sechziger Jahre. Den Höhepunkt der Lohnforderungskampagne brachte allerdings der vergangene Herbst, der in Italien bereits Zeichen der Anarchie und des Umsturzes aufwies, Sturmzeichen, die nichts mehr mit dem reinen Sozialkampf zu tun hatten.

Viele Dinge sind es, die ungelöste Fragen in sich bergen und daher zu jener ständigen Unruhe führen.

• Wohl an erster Stelle muß hier die KPI genannt werden, die zweitstärkste Partei Italiens, die heute einen wesentlichen Teil der Gewerkschaften beherrscht und unbedingt zur Regierung gelangen möchte.

• In zweiter Linie der nach wie vor aufreizende Unterschied zwischen Luxus und enormer Armut,

• die krassen Unterschiede zwischen Nord und Süd. Hier ein hochindustrialisiertes Land, dort karger landwirtschaftlicher Boden.

• Dazu kommen die ungelösten Fragen Siziliens und Sardiniens

• und schließlich, wie überall in der Welt, linke Studentengruppen ohne bestimmtes Ziel als Unruhefaktor. Hatte man früher die ärmere Bevölkerung, aber auch die breite Masse der Beamten und Angestellten, „dumm sterben“ lassen können, so haben inzwischen allzu viele Italiener als Auslandsreisende oder als Fremdarbeiter gesehen, wie derartige Fragenkomplexe in anderen Ländern gelöst werden. Im vergangenen Jahr hielt Italien mit 38 Millionen Streiktagen den Weltrekord. Das Wort „Scdopero“ (Streik) beherrscht heute die Tageszeitungen mehr als andere Schlagzeilen. Dazu kommt, daß die Preise in Italien im Durchschnitt um 10 Prozent gestiegen sind, und dies bedeutet wieder, daß die Wettbewerbsfähigkeit nicht nur im Export, sondern vor allem im Fremdenverkehr ernsthaft bedroht ist, nachdem man noch im Vorjahr freudig feststellte, daß die „Fremdenindustrie“, wie man sie scherzhaft nannte, im benachbarten Jugoslawien preislich die italienische bereits zu überholen beginne. Sollte es aber heuer vielleicht nicht nur einen heißen Frühling und einen heißen Herbst, sondern, der politischen Lage entsprechend, auch einen heißen Sommer geben, in dem Post und Tankstellen streiken, im Ausstand befindliches Hotelpersonal und geschlossene Museen den Gast beunruhigen, dann könnte auch das Notventil der italienischen Wirtschaft eben nicht mehr funktionieren und nach der wirtschaftlichen auch die politische Lage zum Platzen bringen. „Hoffen wir, daß es wettermäßig einen heißen Sommer gibt“, meint man in Italien, „denn an warmen Sommertagen geht dem Italiener das far niente am kühlen Meeresstrand noch immer vor Streik und Demonstration.“

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