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Talfahrt-Ängste

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Eine abgekühlte Konjunktur, aber keine Rezession — das prophezeiten Anfang November fünf Konjunkturforschungsinstitute der bundesdeutschen Wirtschaft im Jahre 1974. Nach ihrer Prognose sollten die Zuwachsraten der Löhne und Gehälter, der Gewinne, der Investitionen und des Ex- und Imports niedriger liegen als 1973. Dennoch sollte es im Jahr 1974 noch weiter aufwärtsgehen. Das Bruttosozialprodukt — immer noch der wichtigste Gradmesser für den Wohlstand eines Landes — sollte weitersteigen, wenn auch nur mehr um 3 Prozent real.

Inzwischen sind die gedämpften Hoffnungen einer tiefgreifenden Konjunktur-Skepsis gewichen. Dieser Tage revidierte BRD-Kanzler Willy Brandt in einer „Regierungserklärung“ die in der Bundesrepublik noch immer gepflegten Hoffnungen gründlich: er sprach von einem Null-Wachstum, großen Schwierigkeiten auf dem Energiesektor und versprach, daß alle einen Arbeitsplatz erhalten werden, wenn sie in den kommenden Monaten den angestammten verlieren sollten. .

Ähnlich skeptisch beurteilte dieser Tage der Nixon-Wirtschaftsberater Herbert Stein die Konjunkturaussichten in den USA. Er rechnet mit einer starken Reduktion des Wachstums, einem Steigen der Arbeitslosenzahl auf 6 Prozent und weigerte sich, für das kommende Jahr eine Inflationsprognose zu machen, weil doch alles so unsicher geworden sei.

Die internationale Wirtschaft diesseits und jenseits des europäischen Kontinents, aber auch diesseits und jenseits der großen Blöcke, schlittert in eine Talfahrt, von der manche annehmen, daß sie sich zur größten Rezession seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges ausweiten könnte. Auslösendes Moment dafür war das öl-embargo der arabischen Staaten. Nicht etwa, daß damit der ölstrom entscheidend ins Stocken geriet, denn noch fließt er ziemlich normal, ins Stocken geriet angesichts der drohenden Rohstoffknappheit eine Art von Wirtschaftseuphorie, die in West und Ost mit geradezu witziger Besessenheit gepflegt worden war.

Denn wie ein bösartiger Tumor breitete sich die von der angekündigten ölverknappung verursachte Energiekrise aus. Zuerst spürten es nur die Autoraser, dann die Sonntagsfahrer und Tankstellenpächter. Dadurch wird die Fremdenverkehrswirtschaft starke Einbußen erleiden, dann werden die Lkw-Fahrer frei feiern, weil ihnen Diesel zur Ausfahrt fehlt. Und schließlich wird der Krisenkrebs nahezu ,alle lebensnotwendigen Branchen überwuchern.

Die Autoproduktion spürte schon seit Frühjahr 1973 einen Nachfragerückgang des Handels und dieser der Konsumenten. In der Bundesrepublik Deutschland lag der monateweise Rückgang 1973 bei etwa 10 Prozent, in Österreich gar bei 12 Prozent. Für die Bundesrepublik Deutschland, die immerhin ein Viertel aller österreichischen Exportgüter abnimmt, sind solche Zahlen bedenklich, signalisieren sie doch ein Minus-Wachstum in einem Industriebereich, in dem jeder achte in der BRD Erwerbstätige beschäftigt ist und darüber hinaus ein Großteil der 2,5 Millionen Gastarbeiter. Unter diesem Gesichtspunkt ist der von Bonn verfügte Gastarbeiterstopp, der in Istanbul zu einem Sonderministerrat mit beschwörenden Appellen an die Bonner Regierung führte, zu sehen. Die drei größten deutschen Autoproduzenten Daimler-Benz AG, Ford und Opel haben auf Kurzarbeit umgestellt, noch ehe die Statistischen Büros Rückgänge bei der Automobilnachfrage im Ausmaß von 50 und mehr Prozent geliefert haben. Der Deutschen Sorge ist demnach berechtigt — 1967 löste eine verhältnismäßig milde Rezession in der Autoerzeugung eine Wirtschaftsrezession von mittlerem Ausmaß aus, die immerhin zur Abdankung Erhardts und zur Büdung einer Koalition zwischen CDU und SPD geführt hat.

Noch stärker gefährdet aber ist die Chemie, die zweite Schlüsselindustrie der Bundesrepublik. Fast allen Produkten wird Erdöl beigemengt. Substitutionsmittel sind entweder zu teuer oder aber noch nicht einsetzbar. In diesem Bereich, in dem mit den Derivaten des Erdöls immerhin Kunststoffe, Synthetics, Pharmazeutika und Farben hergestellt werden, wird mit empfindlichen Produktionseinschränkungen bei gleichzeitiger Verteuerung und Arbeitskräftefreisetzung gerechnet.

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, daß der staatlichen Wirtschaftsförderung in den meisten Ländern in der zu erwartenden Rezession die Hände weitgehend gebunden sind. Eine Forcierung des Straßenbaues (für den im kommenden Jahr in Österreich immerhin rund 9 Milliarden Schilling eingesetzt werden) erscheint fragwürdig angesichts der Tatsache, daß für die in der Regel angewandte Schwarzdeckenbauweise das Erdölerzeugnis Bitumen benötigt wird. In der Textilindustrie wurde in den letzten Jahren weitgehend auf Synthetics umgestellt — so daß die Energiekrise mit ihren Folgen für die chemische Industrie die Textilwirt-schaft sehr stark in Mitleidenschaft ziehen wird.

Ein tiefgreifender Konjunktureinbruch ist im Fremdenverkehr zu erwarten. Zu Wasser, auf dem Lande und in der Luft werden die Beförderungszahlen und damit die Übernachtungszahlen stark zurückgehen. Alle Arten der touristischen Freizeitgestaltung werden nach den Jahren des Booms schwerwiegende Einbußen erleiden: die Diskotheken geradeso wie die Skilifts, die Ausflugsrestaurants ebenso wie die Minigolfplätze. Da ein Großteil der touristischen Einrichtungen in Erwartung eines geradezu ewigen Booms kreditflnanziert wurden, ist mit einer steigenden Ausgleichsund Konkurszahl in der Fremdenverkehrswirtschaft zu rechnen. Eine solche zu erwartende Entwicklung könnte auch eine Reihe von örtlichen Sparkassen, die fast bedenkenlos Kredite in diese Branche gepulvert haben, in ernstliche Schwierigkeiten bringen. Hier wird dann noch zu beweisen sein, was Gemeindehaftungen in der Praxis wert sind.

Investitions-, Produktions- und Wachstumsreduktionen, deren Ausmaße heute noch nicht absehbar sind, werden im kommenden Jahr, und zwar mit allen Folgen für die Arbeitsplätze, das Wirtschaftsgeschehen in Europa und Übersee, in Ost und West bestimmen. Im Zusammenhang mit der Energiekrise, der spektakulären Entwicklung der Rohstoffpreise und zuletzt den düsteren Konjunkturwolken in aller Welt, ist nun auch in Österreich ein gewisser Pessimismus eingekehrt. Die Lohnentwicklung hat in zahlreichen Industriebetrieben zu einem kaum mehr akzeptablen Kostendruck geführt, in zahlreichen Betrieben wurden Investitionspläne, die noch vor dem Sommer beschlossen wurden, eingeschränkt. Die gesunkene Wettbewerbsfähigkeit auf den Auslandsmärkten (Preise, Aufwertungen), aber auch Einschränkungen im Binnenkonsum 1974 gebieten, keine Kapazitätserweiterungen vorzunehmen und die Rationalisierungsinvestitionen zu forcieren. Die Konjunkturangst hat vor allem in der Bau-, der Holz- und der Fremdenverkehrswirtschaft, durchwegs Schlüsselindustrien, Platz gegriffen.

Die offizielle Konjunkturpolitik hält sich derzeit mit Prognosen zurück. Dennoch wagt niemand mehr an ein reales Wachstum von 4,5 Prozent im kommenden Jahr zu denken und eine Inflationsrate in der Höhe von „nur“ 7,5 Prozent hält man für völlig ausgeschlossen. Allerdings hofft man, daß in dem nicht hochindustrialisierten Österreich eine mögliche Rezession wie 1967 nicht zu tief greifen werde. Aus diesem Grund hält man ein Nullwachstum für eher unwahrscheinlich. Da die Nachfrage nach ungelernten Arbeitskräften zurückgegangen ist, rechnet man auch mit einem leichten Abbau bei den Gastarbeitern. Ein gravierender Konjunktureinbruch würde allerdings auch die Arbeitsplätze vieler Österreicher (Bauwirtschaft, Fremdenverkehr, Textilindustrie) in Frage stellen.

Dennoch wird man der zu erwartenden Wirtschaftsrezession auch ihre guten Seiten abgewinnen müssen. Nach den Jahren eines permanenten Booms, in denen man der sektoralen Zuwachsraten von 20 und mehr Prozent oft gar nicht froh werden konnte, scheint eine Ernüchterung an der Zeit zu sein. Vielleicht führt sie auch da und dort zur Besinnung und zum Schluß, daß doch nicht alles machbar ist, was machbar zu sein scheint. Schließlich aber würde auch eine deutliche Ab-schwächung des Wachstums jenen Inflationssog vermindern, in dem sich — nur als Beispiel für viele Volkswirtschaften genannt — die österreichische Wirtschaft bereits seit einigen Jahren befindet.

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