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Genuß mit Reue

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Zu Beginn des Jahres 1970, also vor genau fünf Jahren, herrschte nicht nur in Österreich ein Gefühl der Sicherheit um die wirtschaftliche und soziale Zukunft: Die Investitionsraten stiegen und mit ihnen die Zahl der Arbeitsplätze, von Umweltschutz war nur in parteipolitischen Proklamationen die Rede, Parteien schickten sich an, Regierungsverantwortung zu übernehmen, um Reformversprechen zu realisieren. Von Inflation war damals nur am Rande der öffentlichen Diskussion die Rede; noch Mitte 1970 meinte der damalige Neo-Handelsminister, Doktor Staribacher, daß Wirtschaftswachstum wichtiger als Preisstabilität sei.

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Zu Beginn des Jahres 1970, also vor genau fünf Jahren, herrschte nicht nur in Österreich ein Gefühl der Sicherheit um die wirtschaftliche und soziale Zukunft: Die Investitionsraten stiegen und mit ihnen die Zahl der Arbeitsplätze, von Umweltschutz war nur in parteipolitischen Proklamationen die Rede, Parteien schickten sich an, Regierungsverantwortung zu übernehmen, um Reformversprechen zu realisieren. Von Inflation war damals nur am Rande der öffentlichen Diskussion die Rede; noch Mitte 1970 meinte der damalige Neo-Handelsminister, Doktor Staribacher, daß Wirtschaftswachstum wichtiger als Preisstabilität sei.

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Zu Beginn des Jahres 1970 wunde nicht nur von der heutigen Regierungspartei der Anlbruch eines neuen Zeitalters und die Schaffung eines irdischen Paradieses verheißen. Eines der geläufigsten Worte für den wirtschaftlichen Bereich lautete: „Österreich ist auf der Überholspur.” Im Rennen mit anderen Staaten gelang es unserem Band tatsächlich, repu- tierte Industriestaaten (Großbritannien) zu überholen, im Wettbewerb mit besser vergleichbaren Industriestaaten (Schweiz, Bundesrepublik Deutschland) erreichten wir nur vorübergehende Teilsiege. Wer heute Wohlstandsvergleiche unseres Landes zwischen 1970 und 1975 zieht, wird Wohlstandsgewinne nur als Spurenelemente vörfinden können. Österreich hat sich im Sog der Wachstumseuphorie im ersten Viertel dieses Jahrzehnts mitbewegt, nicht mehr.

Der Weg in die wirtschafte- und gesellschaftspolitische Sackgasse wurde Ende der sechziger Jahre mit überdosierten Reformversprechen eingeleitet. 1969 hieß es auf Plakaten, daß dem „Sterben vor der Zeit” ein Ende bereitet werden solle. Heute heißt es in einem bisher unveröffentlichten Bericht des Bundeskanzleramtes ülber die Gesundheitssituation der . Österreicher,’ daß die Lebenser- Wartung iSöi,,feiif’^blteres Jäher1 gė- sunken iöt. im Wahlkampf des Jäh- res 1970 versprach die damalige SPÖ-Opposition, die österreichische Staatsschuld zu senken: Ende 1969 lag sie bei 43,6 Milliarden Schilling, Ende 1974 betrug sie rund 62 Milliarden. Im Wahlkampf 1970 hieß es auch, daß die Budgetdefizite ebenso wie die Steuersätze in Österreich zu hoch seien. Seither war ein Budget- deftzit höher als das andere — 1975 soll es bereits bei 20 Milliarden Schilling liegen — und derzeit überlegt die Bundesregierung eine Erhöhung des Mehrwentsteuersatzes von 16 auf 18 Prozent. Damit würde der Mehrwertsteuersatzrekord in Europa noch einmal überboten werden.

Die Gegenüberstellung von Reformversprechen des Wahljahres 1970 mit der Wirklichkeit des Jahres 1975 mag sich wie eine Abrechnung mit der Wirtschaftspolitik der Bun desregierung ausnehmen. Das ist freilich nicht der Zweck der Übung; darzustellen gilt bloß, was von fünf Jahren des „ungebrochenen Booms” blieb: Reue nach dem Genuß, die überdimensionierten Erwartungsho rizonte sind der Einsicht in die Grenzen des ökonomisch Machbaren gewichen.

In der allgemein akzeptierten ökonomischen Theorie und Praxis galt bis vor wenigen Jahren das Postulat, daß es in der Welt der Wirklichkeit keine Stabilität ohne Wachstum, aber auch kein Wachstum ohne Stabilität geben könne. In den frühen siebziger Jahren wandelten Grautöne in die kcmjiunkturpolitische „Dialektik”, die sich insbesondere in der Formel von der „relativen Stabilität” spiegelten und die als erste Stufe zur inflationären Eskalation wirkten. Es galt als modern und: wird heute leider immer noch betrieben, die relativ ungünstige Situation des eigenen Landes mit der möglicherweise noch ungünstigeren Situation anderer Staaten zu vergleichen. Die Vergleichspartner wechselten, die Probleme wurden größer.

Das Karussell der Lohn-Preis-Spirale war und ist vom Vorgang der wechselseitigen Scbuldzuschiebung der Sozialpartner begleitet, wobei der ÖGB gelegentlich Macht andeutet und die Arbeitgeberseite um Einsicht in größere wirtschaftliche Zusammenhänge buhlt.

Ende 1973, auch vom Energieschock bewirkt, begann allmählich die Erkenntnis aufzudämmem, daß der Abbau verfestigter Inflatiomserwar- tungen ohne Stabilitätskrise kaum noch zu erreichen sei. Tatsächlich gewannen im Laufe des Jahres 1974 weltweite Rezessionstendenzen an Boden: Ende 1974 wurden in der Bundesrepublik Deutschland 900.000, in Italien 1,003.000, in Frankreich 630.000 in Großbritannien 629.700 und in den Niederlanden 154.200 Arbeitslose registriert; Mitte Februar 1975 soll die Arbeitslosenzahl in denStaaten der Europäischen Gemeinschaft über 4,000.000 liegen.

Vorhersagen über die wirtschaftliche Entwicklung Österreichs in den nächsten Monaten sind ungeheuer schwierig. Das Umschwenken von voll- zu haibausgelasteten Kapazitäten geschieht heute rascher als dies selbst mittelgroße Unternehmen für ihren Bereich Vorhersagen können. So glaubte ein Vorarlberger Unternehmen noch vor wenigen Wochen, daß es den Winter ohne Freisetzung von Arbeitskräften überstehen werde, zwei Wochen später wurde dort Kurzarbeit notwendig, eine weitere Woche später mußten Arbeitskräfte gekündigt werden.

Möglicherweise steht Österreich heute am Scheitelpunkt einer Phase, von der wir nicht wissen können, wohin sie uns führt. Wahrscheinlich wurden sich die meisten erst am Beginn 1975 der kritischen Verschlun- genheit des Labyrinths bewußt, das die Wirtschaftspolitik in den letzten fünf Jahren ebenso optimistisch wie blind gebaut bat.

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