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Eine Demokratie, aber wie lange noch?

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Seit dem Zweiten Weltkrieg weist Italien zahlreiche Merkmale eines Zweiparteiensystems auf. Besser würde man allerdings von einem „Zweiblocksystem” oder einer Bipo- larität der politischen Kräfte sprechen. Die Vielzahl der Parteien kann letztlich auf zwei große Blöcke, einen bürgerlichen um die Democrazia Cri- stiana und einen Linksblock um die KPI zurückgeführt werden. Diesen beiden Blöcken steht die „Italienische Soziale Bewegung” (Movimento Sociale Italiano) als Sammelbecken der Rechtsextremen gegenüber. Italiens Zweiblocksystem war bisher insofern „unvollkommen”, als es seit 29 Jahren nicht zur „Ab-Wahl” des einen Blocks und seiner Entmachtung auf Regierungsebene gekommen ist. Die Opposition war allerdings immer so stark, daß die Christdemokraten und ihre liberalen, sozialdemokratischen und republikanischen, seit 1962 auch linkssozialistischen Verbündeten nie nach Lust und Laune das gute oder schlechte Wetter machen konnten.

Mit Hilfe von Gewerkschaften und Massenmedien, gelegentlich auch durch Protestkundgebungen mit aufständischem Charakter, haben die italienischen Kommunisten seit dreißig Jahren in zunehmendem Maße die christdemokratische Machtausübung konditioniert, manchmal sogar in Schach gehalten. Nach der Kontesta- tionswelle von 1968 genügte die bloße Androhung eines Generalstreiks, um die „bürgerliche” Regierung gefügig zu machen. In einem Fall hat ein solcher Druck ausgereicht, um den Ministerpräsidenten Mariano Rumor zu veranlassen, seinen Hut zu nehmen. 1960 wurde die von Gnaden der Neofaschisten lebende Regierung Tambroni hinweggefegt. Das bloße Aufgebot der Partisanenverbände und der Metallarbeiter drängte Staatspräsident Gronchis Lieblingskind wenige Wochen nach Bildung des „Mitte- Rechts-Kabinetts” in die Defensive und nötigte ihn selbst zur Abdankung.

Wird noch in Rechnung gestellt, daß die KPI zwischen 1943 und 1948, vom Waffenstillstand also bis zu den ersten Parlamentswahlen, maßgebenden Einfluß auf die Ausarbeitung der republikanischen Verfassung nahm und in den ersten „provisorischen” Regierungen vertreten war, so ist auch von dieser Seite her das italienische Zweiparteiensystem gar nicht so „unvollkommen”. Kam es bisher nicht zür Ab-Wahl der Democrazia Cristiana als Regierungspartei, so hat die andere Seite, die KPI, 1948 eine solche Macht-Entsetzung durch den Stimmzettel über sich ergehen lassen müssen und ist seit dem 12. Mai 1974, dem Tag der Abstimmung über die Ehescheidung, darangegangen, die „wirkliche Macht im Hintergrund” auszuüben. Mit den Gemeinde-, Provinz- und Regionalwahlen vom 15. Juni 1975 ist die christdemokratische Vorherrschaft über Italien fragwürdig geworden. Seit den Parlamentswahlen vom 20. Juni 1976 kann überhaupt nicht mehr von einer christdemokratischen Hegemonie gesprochen werden. Der

Regimewechsel von einer vorwiegend christdemokratischen zu einer gemischt bürgerlich-linksorientierten Regierungsführung hat bereits stattgefunden. Ob es bei dieser Art von „Historischem Kompromiß” bleiben und nicht zu einer kommunistischen Vorherrschaft kommen wird, muß abgewartet werden.

Dieser Zustand eines noch unentschiedenen Kampfes zwischen den beiden Blöcken mit der vorläufig bloßen Möglichkeit ihrer gemeinsamen Machtausübung erlaubt gegenwärtig ein außerordentlich hohes Maß an Demokratie mit anarchischen Zügen. Das kann an einigen Beispielen aus dem täglichen Leben abgelesen werden. Die RAI (Radiotelevisione Italia- na) besitzt seit dem 15. März 1976 drei Rundfunk- und zwei Fernsehnachrichtenprogramme mit verschiedener politischer Ausrichtung. Das ganze politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Geschehen im In- und Ausland wird von entgegengesetzten Standpunkten her beleuchtet. Im Te- legiornale 1 und im Giomaleradio 2 findet man Verständnis für das christdemokratische Nein gegenüber einer

Freigabe der Abtreibung, im Tele- giornale 2 und Giomaleradio 1 wird dieser Standpunkt heftig kritisiert oder lächerlich gemacht Im dritten Radioprogramm präsentiert eine Woche lang jeden Morgen irgendein Journalist seinen Pressespiegel und beantwortet anschließend, während einer Stunde, Fragen aus der Zuhörerschaft Ausgeschlossen sind lediglich rechtsorientierte, geschweige denn faschistische Presseleute.

Die Gegensätze zwischen den beiden Lagern sind so ausgeprägt, daß eine Vereinbarung zur Geheimhaltung von Mißständen kaum mehr erfolgen kann. Die Überzeugung, daß die eine Schweinerei die sind ere aufhebe und daß beide Seiten ein Interesse daran hätten, so viel vom ändern zu verschweigen, als dieser wünscht, daß verschwiegen werde, kann kaum bestehen, wo jeder hofft, möglichst allein an die Macht zu gelangen oder an der Macht zu bleiben.

Allerdings befürchten besonnene Italiener, daß unter einem „Historischen Kompromiß” diese maximale Presse- und Meinungsfreiheit gefährdet wäre. Die Führer der beiden größten Parteien haben drei Viertel der Wähler hinter sich und könnten leicht ohne, ja sogar gegen den Willen der kleineren Parteien und auf Kosten aller Bürger regieren. Heute fürchten viele Italiener eine klerikokommuni- stische Herrschaft mehr als eine kommunistische.

Daß die „Padroni” (Arbeitgeber) längst aufgehört haben, wirkliche Padroni zu sein, ist bekannt. Soweit sie „gute Padroni” waren, ist ihr wohltä- tig-patriarchalisches Benehmen jetzt noch verpönter als das ausbeu- terisch-hochnäsige Verhalten der „schlechten Padroni”. Beide Arbeitgebertypyen sehen sich von den übermächtig gewordenen Gewerkschaften in die Enge getrieben - so sehr, daß viele Unternehmer es aufgegeben haben, in diesem Land überhaupt noch etwas zu unternehmen.

Im Land der chronischen Arbeitslosigkeit können aber auch die Gewerkschaften nicht nach Gutdünken schalten und walten - in einer Wirtschaftskrise noch weniger als sonst. Sie sehen sich nämlich dem Vorwurf ausgesetzt, einseitig die Interessen der Beschäftigten auf Kosten der Unbeschäftigten zu vertreten.

Bei jedem Terrorakt mit Todesopfern verlangen die wenigen auf Ordnung bedachten Italiener eine massive Verschärfung der Strafmaßnahmen, nicht selten sogar die Wiedereinführung der Todesstrafe. Es be darf der Überzeugungskunst vieler Politiker, Journalisten, Professoren und Geistlicher, um im Parlament und in den Massenmedien darzulegen, daß ein solches Vorgehen wahrscheinlich nicht nur zum Scheitern verurteilt wäre, sondern auch einen Rückschritt bedeuten müßte.

Die schlechten Erfahrungen der Italiener mit dem Faschismus in seiner Endphase mögen Italien allerdings die Sehnsucht nach besonders freiheitlichen Lebensformen gestärkt haben - mehr als in Ländern, die keine Diktatur kannten. Soweit die Bevormundung der öffentlichen Meinung und das Aufstacheln zu nationalistischer Selbstüberschätzung durch den Faschismus seit dem Zweiten Weltkrieg von der kommunistischen Propaganda über Film, Theater und Literatur systematisch verhöhnt und karikiert wurden, könnte dieser Antifaschismus seinerseits einer KPI-Herr- schaft eines Tages in den Rücken fallen und sich morgen als Bumerang erweisen.

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