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Nachstenliebe unter Vorbehalt

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Halten die meisten Jugendlichen in Italien ein mehr oder minder verdautes marxistisches Gedankengut hoch, so heißt dies keineswegs, daß sie allesamt auf Seiten der KPI stünden und sich dieser Partei mit Haut und Haar verschrieben hätten. Die Vielzahl der Linksparteien in diesem Lande bringt es mit sich, daß zahlreiche 15- bis 25jährige sich von einer anderen Gruppierung zur Linken oder zur Rechten der KPI besser vertreten sehen.

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Halten die meisten Jugendlichen in Italien ein mehr oder minder verdautes marxistisches Gedankengut hoch, so heißt dies keineswegs, daß sie allesamt auf Seiten der KPI stünden und sich dieser Partei mit Haut und Haar verschrieben hätten. Die Vielzahl der Linksparteien in diesem Lande bringt es mit sich, daß zahlreiche 15- bis 25jährige sich von einer anderen Gruppierung zur Linken oder zur Rechten der KPI besser vertreten sehen.

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Besonders die linkskommunistische Partei der proletarischen Einheit (PdUP = Partito di Unitä Proletariat die sich im März in Bologna konstituierte und mit dem Aushängeschild „Democrazia proletaria“ in den Wahlkampf zieht, erfreut sich bei den Jungwählern großer Beliebtheit. Für sie ist die KPI zu sehr mit der etablierten Ordnung verstrickt und vertritt zuwenig das revolutionäre, marxistisch-leninistische Anliegen. Die Hitzköpfe in den PdUP-Reihen zögern nicht, die KPI-Exponenten als „Verräter am echten kommunistischen Gedankengut“ zu bezeichnen und sehen in Berlinguers „Historischem Kompromiß“ die Kapitulation der KPI vor der Democrazia Cristiana und der Kirche.

Links von den Linkskommunisten gibt es politische Bewegungen, die sich nicht an den Wahlen vom 20. und 21. Juni beteiligen werden, keine Kandidatenlisten eingereicht haben und nicht um Stimmen werben. Für sie bedeutet jegliche Beteiligung an einem Urnengang den „Kniefall vor der etablierten Ordnung“.

Diese Selbstausschaltung bringt die Linksextremen naturgemäß in den Verdacht, bei Attentaten auf Parteilokale der Neofaschisten oder auf nationale Denkmäler die Hände mit im Spiel zu haben. Da für die KPI-Exponenten „die Gewalt immer rechts steht“, bemühen sie sich sehr, entsprechende Unterschiebungen nach Möglichkeit von den „com-pagni“ (Genossen) zur Linken fernzuhalten. „Wer weiß, vielleicht haben sich die Faschisten die Verwundungen selbst beigebracht, um der öffentlichen Meinung zu .beweisen', daß auch die nach links Orientierten gewalttätig sein können.“

Bei der Vorliebe vieler Jugendlicher für das totale Engagement und die totale Absage an die herrschende Ordnung, ist es alles andere als merkwürdig, daß ein gewichtiger Teil von ihnen auf seiten der Extraparlamentarier steht oder wenigstens mit ihnen sympathisiert. Allerdings dürfte die Wirtschaftskrise mit der vermehrten Arbeitslosigkeit die Chancen der linken Linken eher vermindert als vermehrt haben — in Italien und anderswo. Offenbar lehrt die Not nicht nur beten, sondern auch, sich der Tatsachen besinnen.

Bezeichnenderweise beteiligen sich jedoch die Angehörigen der „Lotta-continua-Bewegung“ zum erstenmal an den Parlamentswahlen und stellen sogar eigene Kandidaten auf, während sie früher die Urnengänge stets als „demokratisches Getue ahnungsloser Bürger und käuflicher Genossen“ belächelt haben.

Über einen erheblichen Youth-appeal verfügt schließlich Marco Panella, Führer der Minipartei der Radikalen. Dieser italienische Gandhi spricht jene Jugendlichen an, die — völlig auf sich selbst gestellt, ohne Rückhalt bei den Massen — für das vermeintlich Menschliche kämpfen. Als erste die Einführung der Ehescheidung in Italien, die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und ein neues Drogengesetz gefordert zu haben, ist ihnen eine große Genugtuung und verstärkt in ihren eigenen Reihen das Gefühl, Pioniere einer besseren Zukunft zu sein.

Wird irgendein radikales Postulat von den darauf spezialisierten, mit Advokaten aus den südlichen Landesteilen besetzten Behörden auf die lange Bank geschoben, so zögern Panella und Co. nicht, in einen Hungerstreik „bis zum Tode“ zu treten. Die sympathisierende Presse beschreibt dann das Massenfasten der Radikalen in allen Farben. Ärzte stellen nüchtern das Nachlassen der Widerstandskräfte all der heroischen Bekenner fest.

Kurz vor dem Verhungern erhalten die Radikalen dann regelmäßig, was sie wollen, oder doch wenigstens einen kleinen Trostpreis. Die Zusicherung etwa, daß ein Postulat binnen Jahresfrist oder doch vor Abschluß der Legislatur behandelt werden wird.

Böse Zungen behaupten allerdings, daß es bei diesen radikalen Manifestationen alles andere als radikal zu-und hergehe. Das zur Schau gestellte Fasten dauere jeweils höchstens zwölf Stunden. Der Hungerstreik „bis zum Tode“ sei eben nach italienischen Verständnis ein Kampf bis zum Tode, den Tod selbst ausgenommen.

Für eine solche Deutung spricht die Tatsache, daß Marco PaneÜa.so-gar nach zwölftägigem Hungerstreik noch imstande ist, lange Pressekonferenzen durchzustehen und andere Strapazen auf sich zu nehmen.

Man hat also Mühe, Panella mit Gandhi zu vergleichen. Schon deshalb, weil es ihm ja nicht um die Unabhängigkeit seines Landes von einer zweihundertjährigen Fremdherrschaft, sondern lediglich um bestimmte Sonderwünsche geht. Als die Radikalen im Kampf'um den begehrten ersten Listenplatz sozusagen überall von den Kommunisten mit List, Tücke und Ubermacht geschlagen wurden, protestierte Panella einmal nicht „gegen die herrschende Klasse der Diebe, Ausbeuter und Scheinheiligen“ (gemeint sind damit die Christdemokraten), sondern gegen die kommunistischen Genossen zur Linken, und er tat es mit etwa fünfzig Getreuen vor dem KPI-Hauptquartier in der Via delle Botteghe Oscure (Straße der dunklen Geschäfte) in Rom. Es kam zum Handgemenge. Die Polizisten schauten sich das Schauspiel der sich gegenseitig prügelnden Genossen aus sicherem Abstand an. Bevor er sich im Parteilokal verschanzte, gab ein kommunistischer Funktionär Panella eine Ohrfeige. Statt Gleiches mit Gleichem zu vergelten, hielt Italiens Protomärtyrer dem Schläger die andere Wange hin. Nicht faul, versetzte der Kommunist dem Radikalen auch noch auf die linke Seite einen Schlag. Der Vorfall belustigte die Herumstehenden, auch die Polizisten, was die Radikalen wieder veranlaßte, nicht nur Berlinguer als obersten Chef des Schlägers, sondern auch Innenminister Cossigha als den höchsten Vorgesetzten der Uniformierten zu verklagen. Die christliche Nächstenliebe der italienischen Radikalen hat offensichtlich ihre Grenzen.

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