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Müde linke Helden

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Zur Feier der Pariser Kommune marschierten im Frühjahr noch dreißigtausend Jugendliche der extremen Linken über die prächtigen Boulevards und schufen einen bunten politischen Jahrmarkt. Im Studentenviertel Quartier Latin warteten jeden Samstag abend hunderte gepanzerte Polizisten auf Maoisten und Trotzkisten. Die Bürger fürchteten sich, die exchristliche Gewerkschaft CFDT warb, die Sozialisten zögerten und die Kommunisten schäumten. Wohin wird sich diese revoltierende Jugend wenden? Werden sie einen neuen Mal provozieren, die Allianz zwischen Jungakademikern und Jungarbeitern zementieren und jene gefürchteten wilden Streiks inszenieren (siehe Metrostreik), die sich jeder Kontrolle durch die ehrwürdigen ergrauten Gewerkschaftsfunktionäre entziehen? Der französische Innenminister, Raymond Marcellin, zögerte nicht, politische Polizei und Geheimdienste loszulassen. Die extreme Linke gilt als eine gefährliche Bedrohung der inneren Ruhe, durchaus in der Lage, die traditionellen Strukturen einschließlich der kommunistischen Partei zu erschüttern. Als der oberste Chef der KPdSU die angenehmen Seiten eines Pariser Aufenthaltes kennenlernte, wurden nicht nur höchst anständige Exilpolitiker nach Korsika verfrachtet, sondern ebenfalls 13 Jugendliche der trotzkistischen Liga in vorübergehende Haft genommen. Einige Maoisten rutschten trotz der Freude über den Eintritt des Maoreiches in die UNO durch das Räderwerk der polizeilichen Vorbeugungsmaßnahmen.

Ist das Rückgrat gebrochen?

Die extreme Linke fand nicht die Kraft, Kundgebungen gegen die Visite Breschnjews in Paris zu veranstalten. Sie überließ es der Rechten, wie den jüdischen Verbänden, ihre Proteste mehr oder weniger lautstark vorzubringen. Ist also die extreme Linke, seit eh und je in verschiedene Gruppen und Tendenzen gespalten, noch ein Faktor der Innenpolitik? Die Antwort lautet schlicht: Nein. Gelegentlich wird zwar vor der Tätigkeit bewaffneter Milizen gewarnt und es wird von der Aktivität einer M. O. M. (Milice Ouvriėre Multinationale), G. O. A. F. (Groupes Ouvriers Antiflics), G. O. R. (Groupes Ouvriers de Riposte) und G. O. A. R. (Groupes Ouvriers Antiracistes) gemunkelt. Es soll sich dabei um wohlbewaffnete Stadt- guerililas handeln, dem maoistischen Konzept verschworen. Keine dieser gefürchteten Banden dürfte aber mehr als 40 bis 50 Anhänger zählen. Es gelang ihnen einmal, einen Polizisten zu entwaffnen und den gaullistischen Abgeordneten Michel de Grailly zu entführen, der vor einem sogenannten Volksgerichtshof der Verschleuderung von einer Milliarde Franc (neue natürlich) beim Bau des Pariser Schlachthofes La Villette angeklagt wurde. Diese Bewegung eines „Neuen Volkswiderstandes“

proklamierte weitere Aktionen, die meistens kläglich endeten. So wurden die Lokale der rechtsstehenden Zeitschrift „Minute“ angegriffen und die jordanische Botschaft vorübergehend besetzt. Von einigen bescheidenen Zwischenfällen abgesehen, vermochte „Der neue Volkswiderstand“ die Massen nicht zu bewegen, für die Ideale der Chinesen auf die Barrikaden zu steigen. Der Theoretiker der französischen Maoisten, Geismar, neben Cohn-Bendit der hervorragendste Kopf der Studentenrevolution von 1968, verbringt 18 einsame Monate, die ihm die Justiz fürsorglich bereitet hat. Gelegentlich versuchen der Philosoph (und nicht Nobelpreisträger sein wollende) Sartre und seine Gefährtin, Simone de Beauvoir, die chinesische Suppe aufzuwärmen. Ihre flammenden Appelle, in der Leibzeitung der französischen Maoisten veröffentlicht, fallen auf unfruchtbaren Boden. Zu Beginn des Jahres ließen sich noch die Verkäufer dieser Publikation als Märtyrer reihenweise einsperren. Heute wird „La Cause du Peuple — j’Accuse“ in jedem Kiosk angeboten. Sie prangt bescheiden neben üppig wuchernden pornographischen Herrenmagazinen aus der Bundesrepublik und der fröhlichen Stadt Kopenhagen. Die jungen Leute kaufen weder das edne noch das andere.

Zentrum als lachender Erbe

Die Universitäten und mittleren Lehranstalten sind ruhig geworden.

Nach monatelangen heftigen Ideologischen und organisatorischen Auseinandersetzungen ist die noch vor kurzem lebendige französische extreme Linke verstummt. Die Helden sind einfach müde geworden. Sie gehen ganz normal ihren Studien oder Arbeiten nach. Vergeblich versuchen die PSU und die trotzkisti- sche Liga gegenüber den sozialistischen und kommunistischen Parteien die gleiche Stellung einzunehmen, wie dies in Chile die M.-I.-R.- Bewegung projektiert. Seitdem Mitterrand erster Sekretär der sozialistischen Parted geworden ist, gelang es diesem wendigen Politiker, in die festgeschlossene Phalanx der extremen Linken einzubrechen und ihre besten Köpfe für die evolutionären Thesen des humanistischen Sozialismus zu gewinnen. Die Jugendbewegung der sozialistischen Partei verzeichnet seit Wochen einen ungewöhnlichen Zuwachs. Bisher hatten die jungen Kader und Ingenieure die Theorien Trotzkis und Maos entdeckt. Diese Leute finden nun eine politische Heimat in der erneuerten sozialistischen Partei oder flüchten

— o Schreck — zu den liberalen Thesen des wendigen Finanzministers Giscard d’Estaing. Gelegentlich bevölkern sie die radlkal-soziald- stlsche Partei Servan-Schreibers.

Nur die trotzkistische Organisation „die kommunistische Liga“ vermochte diesem Sog standzuhalten. Sie profilierte das eigene Image. Aber die Trotzkisten sind eine Partei wie jede andere geworden, halten diszipliniert ihre Kongresse und Tagungen ab, richten Studienseminare ein und begnügen sich damit, von einem Kommunismus ohne Breschnjew zu träumen. Manchmal werden die Erinnerungen an die Barrikadennächte des Mai 1968 erweckt. Die trotzkistischen Chefs allerdings erwägen kühl ‘ihre Taktik, beginnen Allianzen zu schließen und tun, was ihre Konkurrenten tun: sie untersuchen die Wahlkreise und hoffen, mit der Trikolore um den Bauch bald in die ehrwürdigen Räume des Palais Bourbon einzuziehen. Die Revolution ist zu Ende, es lebe die Revolution.

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