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Wir wollen nicht mehr brav sein

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13. Mai 1968! Flattern Fahnen über Paris, werden an diesem Gedenktag Ansprachen abgehalten, erfolgen Sondersendungen im Fernsehen, um jenen historischen Mai 19S8 zu feiern! Wir erinnern uns; vor genau 10 Jahren stürmten tausende Jugendliche den Palast des Generalresidenten in der Stadt Algier. Die französische Armee schloß sich dieser Bewegung an, das parlamentarische Regime der 4. Republik beging einen beinahe unwürdigen Selbstmord. Der in der Einsamkeit fast vergessene General de Gaulle übernahm die Macht und entwickelte eine besondere Form des Regimes, das wohl am besten mit einem autokratischen Königtum verglichen werden kann.

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13. Mai 1968! Flattern Fahnen über Paris, werden an diesem Gedenktag Ansprachen abgehalten, erfolgen Sondersendungen im Fernsehen, um jenen historischen Mai 19S8 zu feiern! Wir erinnern uns; vor genau 10 Jahren stürmten tausende Jugendliche den Palast des Generalresidenten in der Stadt Algier. Die französische Armee schloß sich dieser Bewegung an, das parlamentarische Regime der 4. Republik beging einen beinahe unwürdigen Selbstmord. Der in der Einsamkeit fast vergessene General de Gaulle übernahm die Macht und entwickelte eine besondere Form des Regimes, das wohl am besten mit einem autokratischen Königtum verglichen werden kann.

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Und gegen dieses Regime marschierten sie nun auf. Es waren 800.000 Menschen, die vom Platz der Republik in das Quartier latin zogen. Voran die rebellischen Studenten, die Jungarbeiter, die sich im starren Rahmen ihrer Gewerkschaft nicht mehr wohl fühlen, ergraute Vertrauensleute der CGT und CFDT, die Professoren und Hausfrauen wälzten sich in dem gewaltigsten aller Aufmärsche seit Kriegsende durch die Straßen von Paris. Es war das Paris von 1789. Die Tradition der Revolution lebte wieder auf und der französische Staat oder besser gesagt, die derzeit existierende Gesellschaftsordnung wurde in den zehn vorangegangenen Tagen auf das tiefste erschüttert. Eines steht fest, das Frankreich nach diesem 13. Mai wird nicht mehr jenes sein, welches Generali de Gaulle vor zehn Jahren konzipiert hatte. Man muß wirklich dabei gewesen sein, um diesen Aufmarsch in seiner politischen und soziologischen Erscheinung zu beurteilen. Die alten Gewerkschaftsführer zeigten sich unruhig. Die Jugend entglitt ihnen. Sie wollte einfach nicht mehr brav sein wie es in einer Aussendung der Katholischen Arbeiterjugend hieß.

Für die Geheimdienste der Regierung wie für die politischen Parteien und Gewerkschaften kamen diese Ereignisse vollkommen überraschend. Niemand, wirklich niemand hatte damit gerechnet. Die Eltern wanderten verzweifelt über die Trümmer des teilweise zerstörten Quartier latins und erkannten ihre Söhne und Töchter nicht wieder. Nachdem auf den französischen Universitäten nur sieben Prozent der Studenten aus Arbeiterkreisen stammt, sind es also die Kinder des mittleren und hohen Bürgertums, die in eine Art Raserei verfallen, die bisherige Ordnung verneinen und die anerkannten Leitbilder in Frage stellen. Mit dem Aufbruch der Studenten Anfang Mai hat es begonnen. Mit der Lähmung der gesamten Infrastruktur der Nation wird die Frage nach der Zukunft des Landes gestellt.

Es begann so harmlos

Und alles hat scheinbar harmlos begonnen. Die öffentliche Meinung beschäftigte sich mit den Studentenkrawallen in Warschau und Madrid, in Rom und Berlin. Dem „Roten Rudi“ wurden Reportagen und Leitartikel gewidmet und etwas schadenfroh meinten die politischen Kommentatoren: „Bei uns ist so etwas natürlich unmöglich.“ Denn die Fünfte Republik schien außergewöhnlich stabil zu sein. Es gab nur zwei Ministerpräsidenten seit 1958. Der Regierungschef erklärte noch vor einigen Wochen sehr selbstzufrieden: „Wir sind die Besten, die seit Jahrzehnten Frankreich regiert haben.“ Der Aufstand der Studenten läßt sich sowohl aus soziologisch politischen Gründen erklären wie auch durch die zahlreichen Fehler, welche die Regierung seit dem 4. Mai begangen hatte. Es ist kaum denkbar, daß die besonnene Masse der französischen Studenten mitgerissen worden wäre, wenn nicht durch den Polizeiterror hiezu das psychologische Klima entstanden wäre.

Das Regime der 5. Republik hat in immer größer werdendem Ausmaß alle Institutionen und Organisationen zum Schweigen gebracht, die zwischen dem Staatsbürger und der Staatsführung stehen. Das Parlament hat sich als ein williges Werkzeug der Regierung erwiesen. Die Besetzung des Palais Bourbon wurde keineswegs von den Studenten erwogen, die sonst gerne die Fakultäten und Theaters erobern. Die Frage nach der Zukunft des Parlamentes tauchte in keiner Diskussion auf. Vor dem zweiten Weltkrieg war die Kammer stets jener Ort, den die faschistischen Ligen einnehmen wollten. Man denke an die Angriffe des blutigen Februars 1934 zurück. Diesmal marschierten die Studenten an den ehrwürdigen Gebäuden vorbei und sahen nicht einmal hin. Wie das Parlament fristen die Parteien ein Dasein im Schatten. Auch die Kommunistische Partei Frankreichs, sehr kleinbürgerlich geworden, denkt an bescheidene Forderungen und entbehrt jedes revolutionären Schwunges. Die einst mächtige christlich-demokratische Partei MRP hat sich einfach in Nichts aufgelöst, die Sozialisten (SFIO) schwelgen in Vorstellungen, die aus der Vergangenheit abgeleitet werden können.

Die gaullistische Bewegung hat keihe eigene Ideologie entwickelt. Für die Mehrheitspartei UNR bestand eine Forderung, den Willen des Staatschefs durchzuführen. Die französische Nation hat seit zehn Jahren ihre Geschicke einem genialen, aber doch alten Mann übergeben, dessen gesellschaftliche und politische Vorstellungen aus dem 19. Jahrhundert stammen. Der Nationalstaat triumphiert: die Souveränität der Nationen darf kaum angetastet werden. Der Gaullismus hat der heranwachsenden Generation wenig Originelles zu bieten. Freilich, die Leistungen der 5. Republik sind als ganz hervorragend zu bezeichnen. Seit 1939 hat Frankreich niemals ein solches Prestige besessen wie gerade jetzt. Im Letzten ist der Gaullismus eine streng konservative Richtung, die sich auf die Fähigkeiten ihrer Technokraten und Planbehörden verläßt. Und diese Männer sind ausgezeichnete Techniker der Macht beste Wirtschafts- und Finanzleute, die mit großem Geschick eine moderne und dynamische Nation schufen. Aber eines haben sie vergesse !, nämlich den Menschen mit seinen Hoffnungen und Schwächen, den Gefühlen und Erwartungen in den Mittelpunkt der Überlegungen zu stellen.

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