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Die Revolution von oben

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Vor zwei Jahren schlugen die Wellen der Empörung am höchsten: da berichtete die Weltpresse über die angeblichen Indianern^assaker in Brasilien, da ließ der deutsche „Spiegel“ seine Serie über „Gewalt in Lateinamerika“ vom Stapel, da machten die Guerilleros des südamerikanischen Riesenreiches Schlagzeilen, als sie den deutschen Botschafter von Holleben in Rio de Janeiro entführten und anschließend die Freilassung vierzig politischer Häftlinge erpreßten. Man sprach von Foltermethoden in den Gefängnissen Brasiliens und las auch von Flugzeugentführungen, von Banküberfällen, Feuergefechten mit der Polizei in Rio und in Sao Paulo. Und als Carlos Lamarca, der berühmt-berüchtigte Chef der Terrorbanden, von brasilianischen Polizisten 1971 erschossen wurde, pfiffen es die Spatzen vom Dach: Brasilien, das war ein Staat, in dem rechter Behördenterror regierte!

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Vor zwei Jahren schlugen die Wellen der Empörung am höchsten: da berichtete die Weltpresse über die angeblichen Indianern^assaker in Brasilien, da ließ der deutsche „Spiegel“ seine Serie über „Gewalt in Lateinamerika“ vom Stapel, da machten die Guerilleros des südamerikanischen Riesenreiches Schlagzeilen, als sie den deutschen Botschafter von Holleben in Rio de Janeiro entführten und anschließend die Freilassung vierzig politischer Häftlinge erpreßten. Man sprach von Foltermethoden in den Gefängnissen Brasiliens und las auch von Flugzeugentführungen, von Banküberfällen, Feuergefechten mit der Polizei in Rio und in Sao Paulo. Und als Carlos Lamarca, der berühmt-berüchtigte Chef der Terrorbanden, von brasilianischen Polizisten 1971 erschossen wurde, pfiffen es die Spatzen vom Dach: Brasilien, das war ein Staat, in dem rechter Behördenterror regierte!

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Aber man muß, um urteilen zu können, schon längere Zeit in Brasilien gelebt haben; mit den Bewohnern gesprochen haben, mit den Studenten und Wirtschaftstreibenden, mit Gebildeten und Arbeitern, mit Bewohnern von Ipanema, dem Villenviertel Rios, und mit Arbeitslosen, die in den Favelas auf Gover-nador hausen. Man muß in brasilianischen Zeitungen geblättert und die Journalisten im Femsehen argumentieren gehört haben. Dann erst kann man, mit der Distanz, die man als Europäer zu den fernen Geschehnissen hat, darangehen, ein wenig hinter die Kulissen zu blicken — dann erst kann man sich ein Urteil erlauben.

Es war ein historischer Tag für Brasilien, dieser 31. März 1964, an dem die Macht im Staat dem Militär zufiel; ein denkwürdiger noch dazu — scheiden sich doch noch heute die Geister an seiner Bedeutung. Die einen — und sie stellen unbestritten die Mehrheit im Lande — faßten den Beginn der sogenannten Militärdiktatur als Befreiung auf und feierten den gelungenen Coup als Erlösung aus der drohenden Gefahr des schon für unabwendbar gehaltenen Kommunismus.

Wie war es zu dem Putsch gekommen, der bis heute dem Lande eine sogenannte Revolutionsregierung beschert, freilich eine von der Art, die von den Linksradikalen als reaktionäre Rechtsdiktatur angesehen wird, als faschistische Machtgruppe, die der Oligarchie dient und das Feudalsystem schützt? Haben die „Linken“ mit ihren Argumenten recht?

Die Fakten sind unbestechlich — und im übrigen in den Archiven des Landes leicht nachzuschlagen. Joäo Goulart — oder, wie ihn das Volk nannte: Jango — war ein schwacher Präsident, ungeliebt, weich, ohne Energien, farblos; ein .Strohmann, wie man heute sagen würde, der den kommunistischen Umtrieben in den Ministerien, in der Verwaltung, im Volke nicht genügend entgegenzutreten schien. Warum hätte er auch sollen, mögen seine Verteidiger noch heute fragen? Die kommunistische Partei war eine offizielle Organisation, eine Partei wie jede andere auch, warb um Mitglieder, machte von sich reden, stellte Programme auf und setzte alles erdenkliche daran, um ihre Ziele zu verwirklichen oder, anders ausgedrückt, um an die Macht zu kommen. Doch welche Partei versucht dies nicht?

Es gab damals keine Zeitungsausgabe, in der nicht über Aufmärsche der Kommunisten berichtet worden wäre, über Versammlungen und propagierte Ziele, über Diskussionen linker Politiker und über die Ansichten linker Persönlichkeiten. Teile des Volkes nahmen besorgt — oder erfreut, je nach Einstellung — den wachsenden Einfluß der linken Ideologien zur Kenntnis.

Im Nordosten des Landes, im Inneren, im Sertäo, formierten sich die Ligas camponesas, lockere Vereinigungen von Colonos, die nach Grundbesitz und Bodeneigentum riefen, die Vormachtstellung der Fazendeiros in Frage stellten und eine Reform der herrschenden Zustände erhofften. Es waren Recht-und Besitzlose, die in der kommunistischen Partei — deren Ziele sie nicht verstanden und deren Ideologie ihnen zu hoch war — das Mittel sahen, um der ewigen Ausbeutung und der Unterdrückung durch die Besitzenden, der Unfreiheit, zu entkommen. Wie sie das bewerkstelligen sollten und was auf den Befreiungsakt folgen sollte, war ihnen gleichgültig. Schlimmer als es war, konnte es nicht mehr kommen...

Auch die Opposition regte sich, die schweigende Mehrheit. Die Stadtbevölkerung, der bürgerliche Flügel, der satte und saturierte, doch auch der biedere Spießer, der es zu wenig Besitz, aber zu einem sorgenfreien Leben gebracht hatte, fühlte, daß etwas geschehen mußte. Man formierte sich zu Demonstrationszügen und hielt Kundgebungen ab; man verwies, lebhaft gestikulierend und mit besorgter Miene, auf die Entwicklung, des Landen, auf die eindeutig diktatorische Zukunft, in die das Land schlittern würde, hinderte man die immer agiler werdenden Kommunisten nicht an der schon für sicher gehaltenen Machtübernahme.

Noch am 30. März gingen Zehntausende auf die Straße und dokumentierten in der Avenida Presidente Vargas, einer der beiden Hauptstraßen Rio de Janeiros, wie geschlossen und geeint die Masse wäre, wenn es gegen die kommunistische Unterwanderung ginge. Und stolz nannte sich die Demonstration der Zehntausend der „Familienmarsch“. Es war eine geballte Faust, der symbolische, aber deutliche Wink, daß große Massen für die Beibehaltung der herrschenden Gesellschaftsordnung plädierten.

Doch wieviel „Masse“ sind schon Zehntausende? Auch die Militärs runzelten besorgt die Stirn. Goulart schien ihnen nachgerade doch zu arglos. Mißtrauisch bemerkten sie, daß die Kommunistische Partei immer mehr Anhänger im Marineministerium um sich versammeln konnte. Und vor allem diese Infiltration in ihren eigenen Reihen ließ einige der Militärs zur Tat schreiten.

Am 31. März war es' dem General Filho Mouräo zu bunt geworden. Als Oberbefehlshaber der Streitkräfte des Bundesstaates Minas Gerais entsandte er nach Rio seine Truppen, die rund um den Gouverneurspalast der Stadt Aufstellung bezogen: um der Entwicklung jene Wendung zu geben, die Mouräo sich vorstellte. Die überraschten Cariocas — wie die Bewohner von Rio genannt werden — hielten die Stunde Lacerdas, des Gouverneurs von Rio, für gekommen; wußte man doch von ihm, daß er ein erklärter Gegner des um sich greifenden Kommunismus war; freilich ahnte man nicht, daß die anmarschierenden Truppen gekommen waren, um gegen den Präsidenten vorzugehen — und nicht etwa gegen den scheinbar bedrohten Gouverneur.

Die anfängliche Verwirrung klärte sich rasch: die Rohre der Panzer drehten sich in Richtung Präsidentenpalais — und Goulart, der die Aussichtslosigkeit der Lage blitzschnell erkannte, bestieg sein Auto, ließ sich zum Flughafen fahren und setzte sich nach Porto Allegre ab. Nicht ein Schuß war gefallen, nicht ein Verwundeter war zu beklagen: Die rechte Revolution hatte gesiegt — ohne jede Gewaltanwendung, wohl aber unter Gewaltandrohung.

Auch die weitere Entwicklung vollzog sich ruhig. Nachdem Goulart geflohen war, trat der Präsident der

Kammer, Mazzili, das Amt des Staatspräsidenten an — vom Gesetz als Nachfolger des Präsidenten für den Fall vorgesehen, daß dieser an, der Ausführung seiner Amtsgeschäfte gehindert sein sollte. War Goulart etwa nicht verhindert? , Mazzili freilich behielt seine Verantwortung nicht lange — er war nur eine Übergangslösung; um der Legalität Genüge zu tun und die Bevölkerung zu beruhigen. Schon bald darauf erklomm ein General die Spitze des Staates: Humberto Castello Branco wurde der erste Präsident der Revolutionsregierung.

Die Antwort auf die Flucht Gou-larts war verschiedener Art: die Kommunisten wurden erbarmungslos gejagt, inhaftiert, verurteilt, aus ihren Schlüsselpositionen entfernt. Die Führer der Linksbewegung taten es denn auch bald dem geflohenen Präsidenten gleich — sie verließen den heiß gewordenen Boden ihrer Heimat. Die Ligas camponesas wurden aufgelöst, die Kommunistische Partei wurde verboten, das Land schien gerettet — wovor? Vor der kommunistischen Gefahr? Vor dem Untergang der herrschenden Strukturen?

Zeitgenössische Berichte aus den Tagen nach der geglückten Revolution zeigen den Glückstaumel des Volkes, als es erfuhr, daß „Jango“ geflüchtet sei. Tagelange Freudenfeste wurden gefeiert, die Menschen in den Städten gebärdeten sich wie im Karneval, Mouräo wurde als Erlöser gefeiert, und Castello Branco schließlich als der Garant für eine friedliche und endlich wieder ruhig gewordene Zeit angesehen. Die Kommunisten, die geblieben und den Verhaftungen entronnen waren, begruben ihre Hoffnungen, das Vclk vom Alpdruck des Rechtsradikalismus zu befreien. Sie gingen in den Untergrund und blieben dort bis heute.

Und heute? Das Land, das unter Goulart eine jährliche Inflation von 190 Prozent aufzuweisen hatte, das Land, in dem es zum guten Ton gehörte, Steuerhinterziehung zu begehen und sich an Korruptionen zu beteiligen, erholte sich in der Folge dermaßen, daß selbst der unpolitische Beobachter nicht daran vorbei konnte, auch das Positive dieser neuen Machtfülle in der Hand einiger weniger Militärs zu sehen.

Für den Nordosten freilich, für die Bewohner des Sertäo, bedeutete der Sieg der rechten Revolutionäre vorerst das Ende aller Hoffnungen auf Änderung der herrschenden Zustände. Die colonos hörten auf, Grund und Boden von den paträos zu fordern; die Militärs kamen und sorgten mit ihren Soldaten für Ruhe. Sie stärkten die Position der Fazendeiros und erstickten fürs erste jedes vernehmbare Räuspern, das nur irgendwie nach Emanzipation klang.

Und die erhoffte Bodenreform ist bis heute noch ausständig.

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