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Die Wilden

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Wird er etwa im Palais Bourbon Barrikaden aufrichten? Wird er die Geister des Mai 1968 beschwören? Wird er mit seinen revolutionierenden Studenten und Jungarbeitern eine Kommune im geheiligten Hause der Volksvertreter begründen? So fragen unsicher „wohlmeinende“ Abgeordnete, die über das neue Mitglied des französischen Parlamentes keineswegs entzückt sind. Diese „Wohlmeinenden“ finden sich nicht nur in den gaullistischen Mehrheitsparteien, sondern sind noch um vieles zahlreicher in der kommunistischen Fraktion. Denn der neu gekürte Abgeordnete des Wahlbezirkes Yvelines wird von den orthodoxen Kommunisten als der gefährlichste Gegner betrachtet, als einer, der Einheit und Reinheit der KPF in Frage stellt. Für die bürgerlichen Parteien wiederum ist Michel Rocard, seines Zeichens Generalsekretär der „Vereinigten Sozialistischen Partei“ PSU, der Wortführer aller Maoisten und Trotzkisten, welche an Stelle der gaullistischen Ordnung die schwarzen Fahnen der Anarchie hissen, für die freie Liebe eimtreten und womöglich den Gebrauch von Drogen staatlich subventionieren wollen.

Es bedeutete schon eine Überraschung, daß der unbestrittene „Chef“ des revolutionären französischen Sozialismus und einer der brillantesten Technokraten der jüngeren Generation im ersten Wahlgang hinter Couve der Murville die zweite Position einnehmen konnte. Es fiel den Kommunisten schwer, sich für den linken Abwei-chKng Rocard zu erwärmen. Das Zentralorgam der KP, „Humanité“, schwieg sich in der Woche vor dem zweiten Wahlgang aus und vermied es, Empfehlungen abzugfiben, obwohi’ der offizielle KP- KandÎ8ai’ ‘êhtspfêctiend der ïfàm tion von der Bildfläche verschwunden war. Die Wiederwahl Couve de Murvilles hing im wesentlichen von den Stimmen der bürgerlichen Zentrumsleute ab. Die Vertreter der Mitte in der Regierung, Duhamel und Fontanet, riefen ihre Anhänger zu einem Vertrauensbeweis für das

Regime auf. Die zutiefst verärgerten Kaufleute, kleine und mittlere Gewerbetreibende der Yvelines, warfen ihre Stimmzettel in die Urne zu jenen der extremen Rechten, der revolutionären und gemäßigten Sozialisten.

Mit dem so gewählten Michel Rooard betritt eine der eigenwilligsten Persönlichkeiten der französischen Innenpolitik die politische Szene in der Kammer. Er hat sich in den Juniwahlen 1969 als Kandidat für das höchste Amt der Republik gegen Pompidou aufstellen lassen, gewann dadurch nationales Relief und wurde zu einem Begriff in allen Teilen des Landes. Seine Partei, die PSU, wurde durch die Mai-Juni-Er- eignisse 1968 gehärtet und hat das Stadium einer Sekte verlassen, zieht die reformfreudigen jungen Sozialisten an und verstärkt ihren Einfluß innerhalb der katholischen Studenten- und Jungarbeiterorganisationein.

Michel Rocard stammt aus einer durchaus bürgerlichen Familie. Sein Vater leitet das physikalische Laibo-

ratorium an einer der bedeutendsten Hochschulen von Paris. Michel Rocard, Absolvent der politischen und Verwaltungshochschule, Doktor der Rechte und Finanzinsipektor, gehört zum Brain-Trust des unbestrittenen Papstes der nichtkommunisti- schen Linken, Mendès-France. Er geriet in Gegensatz zum allmächtigen Herrscher des Parteiapparates der S. F. I. O., Guy Modlet, und gründete mit anderen aufsässigen Linksintellektuellen zuerst die „Autonome“, dann die „Vereinigte“ Sozialistische Partei. Als Generalsekretär der PSU ist ihm das Meisterwerk gelungen, enge Kontakte zur zweitgrößten Gewerkschaftsorganisation Frankreichs, der auch heute noch christlich inspirierten CFDT, herzustellen.

Der revolutionäre Sozialist Rocard konnte sich natürlich in keine Par- lamentsfraktion eimschreiben und wird daher als sogenannter „wilder Abgeordneter“ den Hecht im Karpfenteich spielen. Seine Bank im Palais Bourbon wird er jedoch mit zwei anderen „wilden Abgeordneten“ teilen, dem geistigen Chef der Linksgaullisten, Vallon, und dem einstigen Präsidenten der demokratischen und sozialistischen Föderation, Mitterrand. Der frondierende Louis Vallon, Abgeordneter von Paris, langjähriger Inspirator der liniksgaullistischen UDT, die kürzlich wieder zum Leben erweckt wurde, hatte im Oktober dieses Jahres ein zorniges Pamphlet gegen den amtierenden Staatschef Pompidou veröffentlicht. Das Buch trägt den vielsagenden Titel „Der Anti-de-Gaulle“ und klagt Pompidou schwerer geistiger Verfehlungen am Erbe des Generals an.

Die gaullistische Pârtei UDR antwortete prompt auf diesen Angriff und schloß Louis Vallon aus. Er verspricht, kn Parlament auch weiterhin die wahre Fahne de Gauldes hochzu- hälten.

Als dritter Musketier präsentiert sich François Mitterand, den keine der Splitterfraktionen, die sich nach der Auffächerung der demokrati-

schen und sozialistischen Föderation bildeten, haben wollte. Die Beziehungen Mitterrands zu der S. F. I. O. waren stets getrübt. In der radikalsozialistischen Partei vermochte der Präsidentschaftskandidat von 1965 niemals Fuß zu fassen. Nachdem auch seine mit großem Aufwand verkündeten Wahlfahrten durch die regionalen Zentren eines erneuerten Sozialismus ein Mißerfolg wurden, dürfte Mitterrand weiterhin das gaullistische System von der eisigen Höhe der Einsamkeit bekriegen.

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