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Die Mitte formiert sich

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Nachdem unter der Herrschaft de Gaulles die Bedeutung der politischen Parteien sichtlich zurückgegangein war, finden sich die geistigpolitischen Familien Frankreichs nur langsam wieder, suchen sie Erneuerung, eine Bestätigung ihrer Aktivität und tasten sich vorsichtig wieder an eine Gruppierung heran, die sich seit Monaten ankündigt. Noch ist die politische Landkarte Frankreichs unklar. General de Gaulle hatte souverän die Außen- und Innenpolitik beherrscht, um dem von ihm verteufelten Regime der politischen Parteien und gesetzesgebenden Versammlungen eine Chance einzuräumen. Nach dem 27. April 1969 konnte die gaullistische Sammelbewegung in den Präsidentschaftswahlen noch einen beachtlichen Erfolg erzielen. Aber die Masse ihrer Abgeordneten, mit Ausnahme des orthodoxen Kerns von 40 bis 50 Persönlichkeiten, blickt nach rechts und zur Mitte, um bei einer eventuellen Umschichtung weiterhin auf die Gunst der lokalen Wähler rechnen zu können. Es handelt sich wie gesagt um ein Vorfühlen und Beobachten. Weder der am 24. und 25. Jänner abgehaltene Konvent des Zentrums noch der Kongreß der Kommunisten im Februar oder jener der Radikalsozialisten im März wird bereits endgültige Schlüsse zulassen, wie sich die politischen Strukturen Frankreichs in den siebziger Jahren entwickeln werden.

Wie ein Ei dem anderen

In den Präsidentschaftswahlgängen 1965 und 1969 hatten sich 17 bis 19 Prozent der Wähler zur Mitte bekannt und wünschten die Gründung einer modernen Zentrumspartei. Als der letzte Präsident des

MRP, Jean Lecanuet, gegenüber de Gaulle einen Achtungserfolg errang und den legendären General in die Stichwahl drängte, schien eine Sternstunde der politischen Mitte gekommen zu sein. Aber weder Lecanuet noch Poher konnten im vergangenen Jahr die Millionen Stimmen organisieren und sie in einer Sammelpartei als die dritte Kraft zwischen Kommunismus und Gaullismus präsentieren.

Jeder Beobachter wird es bestätigen, daß der jüngste Parteikongreß des Zentrums im politischen Rhythmus und Klima den Veranstaltungen des verblichenen MRP glich. Es waren dieselben Personen, denen man begegnete, dieselbe Form der Diktion, und die Ansprachen Lecanuets erinnerten an die flammenden Reden Pierre-Henri Teigens und Maurice Schumanns. Soziologisch betrachtet, muß die Partei als eine Art Fortsetzung der Volksrepublikaner bezeichnet werden. Der christliche Arbeiter, der mittlere Gewerbetreibende, Landärzte und die organisierte Bauernschaft trafen sich wie einst und je, um ihren Idealen von einem einigen Europa und einer sozialen Demokratie sowie der Dezentralisierung des Staates, also nach unserer Terminologie dem Föderalismus, zu huldigen. Das Zentrum verfügt über keine eigene parlamentarische Vertretung, wie dies beim MRP selbstverständlich war. Die Fraktion „Fortschritt und moderne Demokratie“, vom gegenwärtigen Landwirtschaftsminister Duhamel inspiriert, ist kein Ausdruck der Partei. Die 40 Abgeordneten vermeiden den Klubzwang sowie den Rechenschaftsbericht über ihre Tätigkeit im Palais Bourbon. Es handelt sich um eine lose Arbeits-

gemeinschaft, die sich zur politischen Mitte zählt, aber der christlich-demokratischen oder sonstigen Parteiideologie ausweicht.

Die „dritte Kraft“

Die Orientierung der Partei wurde durch die tausend Kongressisten nicht eindeutig definiert. Die Mehrheit unter der Führung des Generalsekretärs Abelin verharrt in strenger Opposition zum Regime Pompidou— Chaban-Delmas und verurteilte die Zentrumsminister PUven, Fontanet und Duhamel. Mit Sehnsucht wurde das Rezept der „dritten Kraft“ angeboten, das heißt, die Allianz, wenn nicht die Fusion mit den demokratischen Sozialisten und den Radikalsozialisten eines Servan-Schreiber. Die beiden anderen Parteien, vielfach von den Kommunisten umworben, zeigen sich als spröde Bräute und wollen von den Angeboten ihrer einstigen Freunde aus der IV. Republik wenig wissen. Generalsekretär Abelin und seinen Anhängern schwebt das Konzept einer Zentrumspartei vor, die sich zum einigen Europa und — man höre und staune — zu einem humanistischen Sozialismus bekennt.

Obwohl hecanuet und Abelin weiterhin die ungekrönten Könige der Zentrumspartei sind, ist die Manövrierfähigkeit dieser Politiker — sie gestehen dies offen ein — außergewöhnlich eingeengt. Nur auf sich gestellt, werden sie niemals die Alternative zur gaullistischen Mehrheit bieten. Wird sich Servan-Schreiber, Generalsekretär der Radikalsozialisten, bereit erklären, den Versuchsballon der Zentrumspartei aufzufangen? Die Radikalsozialisten halben dn Kommunisten eine massive Atjfuhr erteilt.

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