Was für eine gespaltene Linke bis zum Sommer 1972 ein frommer Wunsch war, nämlich noch in diesem Jahrhundert in Frankreich an die Macht zu kommen, rückte — falls man den Meinungsumfragen glauben darf — in den Bereich des Möglichen. Wenn die Volksfront Realität wird, ergibt dies eine gesellschaftliche und politische Umwälzung großen Stils, und zwar nicht nur für Frankreich. Die Kenner der Innenpolitik bemühen sich seit Wochen um die Deutung des Volkswillens, wie er sich herauszukristallisieren scheint, und nehmen das stärkste Element einer eventuellen sozialistisch-kommunistischen Regierung scharf unter die Lupe.
Finanzminister Giscard d'Estaing bewies sich wieder einmal als Hecht im Karpfenteich. Nach einjährigem Schweigen hielt er Mitte Oktober eine aufsehenerregende Rede. Sie war von seinem Berater, dem Prinzen Poniatowski, in der Öffentlichkeit sorgfältig vorbereitet worden. Mit einem Satz zeigte der Herr der französischen Steuern neue, von vielen erhoffte, aber nie zuvor so deutlich proklamierte Perspektiven der Innenpolitik. Giscard d'Estaing meinte in seinem trockenen Tonfall, Frankreich sollte künftighin vom Zentrum regiert werden. Diese wohlberechnete, taktische Bemerkung provozierte
Wer sich mit der neuesteh französischen Geschichte beschäftigt, wird ständig mit vier Ereignissen konfrontiert, die das politische Bewußtsein der Nation formten: die Volksfront von 1936, die Resistance, der Algerienkrieg und der Mai 1968.
Westeuropa wird zur Zeit von einer eigenartigen Krankheit befallen. Sie nennt sich „Wahlfieber“. Italien ging mit gutem Beispiel voran; in der Bundesrepublik beschäftigen sich sowohl Brandt wie Barzel mit der Frage, noch in diesem Jahr die Wähler als Schiedsrichter aufzurufen.Frankreich sollte — gemäß Gesetz — erst im März 1973 die Urnen öffnen. Aber seit Wochen dreht sich in Paris ebenfalls ein Wahlkarussell. Die politische Elite, von rechts bis links, blickt wie hypnotisiert auf den Elysee-Palast. Wird Präsident Pom-pidou die Kammer auflösen und im Herbst die Bürger
„Sie wollen mich also befragen und möchten wissen, was ich am Ende dieses Jahres denke, wie ich lebe, welche Hoffnungen ich hege, mit welchen Befürchtungen ich mich beschäftige? Sie sind wirklich neugierig. Der einfache Pariser ist verschlossen, wenig umgänglich und möchte in diesen finsteren Dezembertagen an nichts denken. Wir haben es aufgegeben, Gäste zu empfangen. Ich vermeide es, wie in früheren Jahren, nach der Arbeit im Bistro mit meinen Kollegen den Aperitif zu schlürfen. Was sollten wir miteinander besprechen? Jeder von uns weiß, wie die Preise steigen. Alle Rechenkünste
Während der hohen Zeit General de GauUes rätselten die Beobachter der französischen Innenpolitik über den Fortbestand der Sammelpartei UDR nach Abgang des Insiwrators. Bekanntlich bat de Gaulle 1947 das RPF gegründet, aber 1958 die Initiativen seines Leutnant Jacques Sou-stelle mit Skepsis betrachtet, der verschiedene gaullistische Gruppen in einer Union versammeln wollte. Schließlich wurde die UNR geboren, die sich zur heutigen UDR mauserte. Nach den Maiereignissen 1968 erhielt die Partei die absolute Mehrtieit und gab sich in dem fähigen Robert Poujade einen vorzüglichen politischen
Die Barone des gaullistischen Regimes bestätigen ihren Wählern in den Sonntagsreden: „Seitdem unser General im Mai 1958 den Parteien-Staat beendete und 1962 mit Algerien Frieden in Evlan schloß, fand Frankreich Ruhe. Die Zeit militärischer Expeditionen ist vorüber. Keiner unserer jungen Soldaten muß den Heldentod auf fernen Kriegsschauplätzen erleiden.“Diese Behauptung klang bis 12. Oktober 1970 überzeugend So gut wie niemand wußte etwas vom Einsatz französischer Truppen und Fremdenlegionäre im Staate Tschad. Lediglich bei den Verhandlungen über die Lieferung von 110
Am 20. September kürte der zweite Wahlkreis der fröhlichen Weinstadt Bordeaux einen Abgeordneten, um den kürzlich verstorbenen Volksvertreter Jacques Chabrat zu ersetzen. Nachwahlen bedeuteten bis vor einem Jahr in Frankreich kein besonderes Ereignis. Die Strategen aller Partelen waren sich der lokalen Bedingungen bewußt, kannten den Einfluß der Notabein, schätzten das Ausmaß der soziologischen Zusammensetzung eines Bezirkes richtig ein und versuchten, Erfolg oder Mißerfolg zu verniedlichen. Diese eiserne Regel, herausgebildet in der Geschichte dreier Republiken, wurde bereits durch
Mehrere europäische Staaten warteten sehnsüchtig, in das sorgsam gehütete Vorzimmer der EWG vorgelassen zu werden. Die französischsprechenden Länder des schwarzen Afrika, unterstützt von Paris und Brüssel, erhielten an sich günstige Präferenzverträge. Die französische wie die deutsche Diplomatie bemühen sich, Franco-Spanien europäisch hoffähig zu machen.
Dreißig Jahre ist es her, daß ein unbekannter Offizier in letzter Minute zum Unterstaatssekretär im Kriegsministerium ernannt, ein Spezialist für Panzerstrategie, am 18. Juni 1940 von London aus seinen flammenden Aufruf verlas: Frankreich habe wohl eine Schlacht, aber nicht den Krieg verloren. Dieser Tag wird von den Traditionsverbänden der Widerstandsbewegung als der Beginn einer heroischen Zeit beurteilt. Der Marsch von London über Afrika bis Berchtesgaden, die Erinnerung an die Marschälle Leclerc, de Lattre de Tassigny, der Heldentod tausender Widerstandskämpfer, finden ihre Bestätigung in der glorreichen Geschichte des Befreiers: General de Gaulle.
In der Hetze des Alltags, im bitteren Kampf der Konsumgesellschaft träumt jeder von uns gelegentlich von einem fernen Eiland oder einer geheimnisvollen Stadt am Meer, wo sich Orient und Occident begegnen. Die Hauptstadt des 14-Millionen-Volkes der Algerier ist eine solche Stadt, sie steht jedem Besucher gastlich offen. Doch sollte man, wenn man sie verstehen will, europäische Vorurteile abbauen, ihre leidvolle Geschichte in den letzten Jahrzehnten studieren uiid sich mit der arabischen Mentalität vertraut machen.Algier zählt gegenwärtig 1,4 Millionen Einwohner. Wie jede Großstadt, droht es alle Grenzen zu sprengen, baut Satellitenstädte, riesige Universitätszentren und Siedlungen für Fellachen, die sich in Industriearbeiter verwandeln.
Nachdem unter der Herrschaft de Gaulles die Bedeutung der politischen Parteien sichtlich zurückgegangein war, finden sich die geistigpolitischen Familien Frankreichs nur langsam wieder, suchen sie Erneuerung, eine Bestätigung ihrer Aktivität und tasten sich vorsichtig wieder an eine Gruppierung heran, die sich seit Monaten ankündigt. Noch ist die politische Landkarte Frankreichs unklar. General de Gaulle hatte souverän die Außen- und Innenpolitik beherrscht, um dem von ihm verteufelten Regime der politischen Parteien und gesetzesgebenden Versammlungen eine Chance einzuräumen. Nach dem
Der Vater Europas, Robert Schuman, liebte es häufig im kleinen wie im großen Kreis zu betonen, daß der nach ihm benannte Plan das Ziel verfolge, eine engere Bindung der neuen Staaten Afrikas an das werdende Europa zu erreichen. Die Partei der Volksrepublikaner (MRP) hat. diesen Gedanken auf zahlreichen Kongressen aufgenommen und von der Bildung einer europäischafrikanischen Union, gesprochen. Frankreich hatte ja in Afrika ein bedeutendes Kolonialreich und wollte mit Hilfe der Partnerstaaten des Gemeinsamen Marktes diese Gebiete systematisch entwickeln und den 70 Millionen französischsprechenden Afrikanern eine ständige technische und soziale-Unterstützung sichern.
Es wird einsam um den interimistischen Staatspräsidenten Alain Poher, der für einige Augenblicke berechtigte Hoffnungen hegte, die Nachfolge de Gaulies anzutreten und ein geändertes Regime in Frankreich zu errichten. Schon vor dem ersten Wahlgang hatten sich seine unmittelbaren Gesinnungsfreunde in das gaullistische Lager gerettet. Sie folgten der Einladung Pompidous, der eine Erweiterung seiner Mehrheit bis in die Reihen des Zentrums plante.
In La Tour du Pin stürmten kürzlich 4000 wütende Kaufleute das Steueramt und schleuderten die Akten auf die Straße. Sie beschlagnahimten zwei Tonnen Unterlagen, die nach Worten der Führer des Aufstandes als „Geiseln“ gedacht sind, um mit den Behörden verhandeln au können.Im Hertost 1967 hatten die Bauern revoltiert, dm Mai/Juni 1968 waren es die Studenten, welche die Reformgesetze Edgard Faures erzwangen. Die Gewerkschaften hatten in ihren historischen Streikwellen die damalige Regierung Pompidou so unter Druck gesetzt, daß sich diese genötigt sah, die Verträge von Grenelle zu
Eines muß man dem französischen Staatschef zubilligen: seine Grundgedanken bezüglich Staat und Gesellschaft haben seit Kriegsende fast keine Änderung erfahren. Als der provisorische Regierungschef überraschend Anfang des Jahres 1946 zurücktrat, wollte er sein Mißbehagen über den vorgelegten Entwurf einer Verfassung demonstrieren. Diese räumte der Exekutive so gut wie keine Rechte ein und spielte den gesetzgebenden Versammlungen die Macht im Staate zu. Die IV. Republik scheiterte unter anderem an ihrem Unvermögen, die Einrichtungen des Gemeinwesens zu reformieren.
In einem eleganten Pariser Restaurant treffen sich seit Jahren Politiker, Wirtschaftsfachleute und Publizisten und verbinden das Angenehme mit dem Nützlichen. Sie genießen die Freuden der französischen Gastronomie oder, was davon noch übrig geblieben ist, und hören sich die Ansprache einer bedeutenden Persönlichkeit des In- und Auslandes an, die zu einem aktuellen Problem Stellung nimmt. Der Klub „Meinung in 24 Stunden“ wurde dadurch ein feststehender Begriff der Aussprache. Auch diesmal huschten eilige Kellner hin und her, klapperten die Anwesenden diskret mit den Bestecken.
Jeder Zeitgenosse hat sich einmal mit dem tragischen Schicksal des einzigen Sohns Napoleons beschäftigt, der als König von Rom seine Karriere begann und sich als Herzog von Reichstadt in Erinnerungen an seinen Vater verzehrte.Seit einigen Tagen besitzt Frankreich — wie es der Pariser „Figaro“ spöttisch darstellt — wieder einen ,,König von Rom“. Ein recht wohlbeleibter Herr, dem ständig eine Zigarette im Mundwinkel hängt, stellt sich der freudig überraschten Bevölkerung als Nachfolger des bonapartistischen de Gaulle vor. Er heißt Georges Pompidou, Exminister-präsident der V.